Zum Wiederaufbau Die Zerstörung der münsteraner Altstadt im Zweiten Weltkrieg war verheerend, der Wiederaufbau begann so zügig, dass es die Nachkriegsgeneration in Staunen versetzt. Mitte der 50er Jahre zeigten sich wesentliche Teile des Zentrums in alt-neuer Pracht. Münster ging beim Wiederaufbau einen sehr eigenständigen Weg, der seinerzeit nicht unumstritten war. |
Münster
Paul Hühnerfeld
(Paul Hühnerfeld, geb. 1906 in Ratingen, gest. 1960 in Hamburg, Schriftsteller und Literaturkritiker für Die Zeit)
Wer die Stadt Münster besucht, kann zur Not auf einen modernen Stadtplan verzichten. Es genügt, wenn er einen alten Kupferstich der westfälischen Stadt bei sich hat; Denn nach weit über 1000 Jahren Geschichte ist der Grundriss dieser Stadt immer noch der alte, wenn auch die alten Häuser verbrannten.
Diese westfälische Stadt wird in ihrem Kern immer noch geprägt durch den alten Aufbau: um die Kirchen, vorzüglich um den Dom, gruppierten sich Häuser und Straßen, um jenen Dom, der an einem Septembertag des Jahres 1265 von dem Fürstbischof Gottfried von der Mark eingeweiht wurde. Wieder an einem Herbsttag, diesmal im Oktober 1956, konnte Bischof Michael Keller von Münster in der durch amerikanische Sprengbomben im Zweiten Weltkrieg zerstörten, nun wieder hergestellten Kathedrale das erste Pontifikalamt zelebrieren.
Münster, einmal die Hauptstadt der preußischen Provinz Westfalen, zuvor Hauptstadt des selbstständigen Fürstbistums, eine Stadt, in der die stolze Vergangenheit bis zur Zerstörung eine selten glückliche Synthese mit lebendiger Gegenwart eingegangen war, Münster also, wurde im Krieg zu 80 Prozent zerstört. Aber an dieser Stadt bewahrheitete sich der alte Satz, wonach Staaten vernichtet werden können, aber nicht Städte; denn diese Stadt ist wiederauferstanden. In Münster ist Neues geschaffen worden, indem man restaurierte. Und damit ist denn das Wort gefallen, dass die Bedeutung dieses Aufbaus über das Lokale erhebt, das Wort: Restauration. Am Beispiel dieser Stadt kann demonstriert werden, wie vorsichtig man mit diesem Begriff umgehen muss und wie wenig er geeignet ist, als Schlagwort für Rückschritt oder Stillstand verwandt zu werden.
Die Geschichte dieser Stadt ist lange Zeit abzulesen an der Geschichte ihres Domes. Er wurde erbaut in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts; zwei Vorgänger standen an derselben Stelle. Für Kunsthistoriker ist der St.-Paulus-Dom ohne Zweifel eines der interessantesten Denkmäler abendländischer Kunstgeschichte. Vierzig Jahre lang dauerte die erste Bauzeit, die ein Meisterwerk des spätromanischen Stils schuf. Im 16. Jahrhundert veränderte Fürstbischof Erich von Sachsen-Lauenburg den Dom im spätgotischen Stil. Dann allerdings – genau am 24. Februar 1534 – schien der Aufbau des Domes zunächst beendet, denn „an jenem Nachmittag um vier Uhr“, so berichtet der Chronist, „überfiel Bernhard Mumme mit einer Schar von Lumpen den Domküster und entriss ihm die Schlüssel. Sie stürzten zunächst in die Marienkapelle und dann in die übrigen Räume und plünderten, zerbrachen und verdarben alles...“
Was hier geschildert wurde und was nach dem Willen der Zerstörer für immer Beamte Bestand haben sollte – das Reich der Wiedertäufer nämlich –, bestand nur wenige Monate. Dann eroberte der Fürstbischof seine Stadt zurück.
Geheimnisvoll lieb, wie der „Stilmischmasch“ des Domes zusammenpasste; unverständlich eigentlich, warum die spürbare Spannung des Hauses zuletzt doch in eine majestätische Ruhe einmündete. Und doch ist es nur von hier zu verstehen, dass die Kathedrale auch den neuen Aufbau, der ja notwendigerweise wieder mit neuen Stilmitteln arbeiten musste, überstand, dass sie ihre Würde behielt und doch nicht wie ein Denkmal wirkt.
Was ist überhaupt geschehen, dass diese Stadt, die beim Wiederaufbau einen oft angegriffenen Weg ging, heute keinen musealen Eindruck macht? Dicht am Dom liegt der Prinzipalmarkt; mit seinen Giebelhäusern einst eine der schönsten alten Straßen Mitteleuropas, durch Fliegerangriff so gut wie hundertprozentig zerstört. Nun hat man ihn wieder aufgebaut, wieder mit Giebelhäusern und doch nicht im alten Gewande.
Man ist in Münster davon überzeugt, dass der Verkehrsstrom in absehbarer Zeit so groß wird, dass man über kurz oder lang das Innere einer Großstadt für den Verkehr wird sperren müssen. |
Was rein bautechnisch passierte, ist leicht zu erklären; man richtete sich beim Wiederaufbau nach dem alten Grundriss der Altstadt; man lehnte es strikt ab, großräumige Straßen und Verkehrsplätze zu schaffen, eine Chance, die andere alte Städte, zum Beispiel Kassel, beim Wiederaufbau rigoros wahrnahmen. Man ist in Münster davon überzeugt, dass der Verkehrsstrom in absehbarer Zeit ohnehin so groß wird, dass auch das modernste Innenstadtstraßennetz ihm nicht mehr gewachsen ist, dass man über kurz oder lang das Innere einer Großstadt für den Verkehr wird sperren müssen. Warum dann also – so gingen die Überlegungen weiter – auf das alte Stadtbild verzichten zugunsten eines sehr fragwürdigen Fortschrittes? Nein, in Münster wurde nach Jahrhunderte alten Grundrissen gebaut. Die alten Maße wurden wieder gewonnen, der alte Baurhythmus gewahrt, der frühere Gesamteindruck wiederhergestellt. Das heißt nun nicht, dass man die alten Giebelhäuser in ihrem Stil kopierte. Man schuf auf demselben Platz mit denselben Maßen neue Häuser, die durchaus nicht nachgemacht wirkten, aber dennoch durch dieselben Maße eine ähnliche Atmosphäre verbreiteten. Was dort steht, ist nicht alt, und es wird auch nicht vorgetäuscht, dass es alt sei. Nur mit dem ehrwürdigsten Gebäude des Prinzipalmarktes machte man eine Ausnahme, mit ihm, dem wohl schönsten gotischen Rathaus Deutschlands nämlich. Dies Haus hat man – wenn man so will – kopiert.
Der alte Grundriss und Querschnitt der Stadt war mit der Anlage der Festungsmauern begrenzt. Nun stehen die Festungsmauern schon lange nicht mehr, der letzte fürstbischöfliche Minister von Fürstenberg ließ sie schleifen und schuf dafür eine Promenade, eine grüne Einfassung der Stadt, die noch heute die Innenstadt begrenzt. Derselbe Minister war es auch, der 1773 die Universität errichtete, deren Gebäude und Institute durch zwei Weltkriege mit Ausnahme der medizinischen Kliniken so gut wie völlig vernichtet wurden.
Um nicht beim Wiederaufbau der Universität einen völlig neuen Stadtkomplex zu schaffen, hat man in Münster auch hier versucht, Tradition mit modernen Anforderungen zu verbinden. Mittelpunkt der Hochschule wurde nun das im 18. Jahrhundert erbaute fürstbischöfliche schloss Komma das durch die Luftangriffe nur zum Teil beschädigt war Punkt vom Schloss aus, das am Rande der Altstadt liegt, ziehen sich die Institute der geisteswissenschaftlichen Fakultäten bis zum Domplatz hin, während nach der anderen Richtung die naturwissenschaftlichen Laboratorien mit den im Westen der Stadt gelegenen Kliniken die Verbindung herstellten.
Nur mit einem Gebäude kann dazu avantgardistisches modernes geschaffen, mit dem neuen Theater, das nur noch den Standort mit der alten Bühne gemeinsam hat.
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Die Westfalen, sind ein niederdeutscher Stamm von oft tiefsinnigem, aber nicht beweglichem Geist, Menschen, deren hervorstechendste Eigenschaft Treue zu einmal gewonnenen Überzeugungen, Liebe zu dem Land, das sie bewohnen, und ein schwermütiger Humor sind. |
Die Atmosphäre der Stadt Münster wurde geprägt vom katholischen Glauben und westfälischer Eigenart. Die Westfalen, um das Letztere vorwegzunehmen, sind ein niederdeutscher Stamm von oft tiefsinnigem, aber nicht beweglichem Geist, Menschen, deren hervorstechendste Eigenschaft Treue zu einmal gewonnenen Überzeugungen, Liebe zu dem Land, das sie bewohnen, und ein schwermütiger Humor sind. Wie der Geist einer Stadt beschaffen ist, die sie bewohnen, lässt sich deshalb leicht ablesen. Etwas problematischer liegt es mit dem deutschen Katholizismus. Es ist kein Geheimnis - einer der größten Universitätslehrer, die je in Münster lehrten, der Philosoph Peter Wust, hat das offen ausgesprochen –, dass dem deutschen Katholizismus im Gegensatz zum romanischen (aber auch zum polnischen) oft etwas Provinzielles, eine gewisse Biederkeit anhaftet. Das sagt nichts gegen ihn aus; denn das Biedere hat den Vorzug einer unzerstörbaren Kontinuität, einer hochgradigen Zuverlässigkeit und steten Tapferkeit, die sich denn auch in schlimmsten Jahren gerade in Münster in der Figur des Bischofs von Galen so sichtbar manifestierte. – Aber es verhindert doch geistige Höhenleistungen, die man hier eigentlich erwarten könnte.
Was geistig war in dieser Stadt, wurde vom Adel und vom Klerus getragen. Der Adel spielt heute kaum noch eine Rolle, der Klerus ist selbst in konfessionell stark gebundenen Landschaften nicht mehr in der Lage, den alten Einfluss auszuüben. Und also ergibt sich die Frage: Wer prägt den Geist dieser neuen alten Stadt heute, ohne den sie denn bei allem geglückten Wiederaufbau schließlich doch zum Museum würde? Hier ist die entscheidende Frage gestellt, die unmittelbar auf das Wort „Restauration“ zurückführt. Wird sich erweisen, dass der Strom der Geschichte eine alte Stadt auch heute noch trägt, ihre Menschen umfängt, so dass sie, umgeben von moderner Wurzellosigkeit, ihre Mitte nicht verloren haben? Das ist eine Frage, die natürlich nicht mit Ja oder Nein zu beantworten ist, aber es ist doch zu spüren, dass hier in Münster Geschichte noch trägt. Hier ist noch Geschlossenheit des Weltbildes, Eingebundensein in einem Kodex von alltäglichen Sitten und Gebräuchen, in denen nur der oberflächliche etwas „Provinzielles“ sehen kann, die aber in Wirklichkeit Chiffren für Tieferes sind, für das Eingebettetsein in einem noch nicht versiegten Strom, der von weit kommt und der offenbar auch noch weiter fließen wird. Es ist immer noch der Strom, der geprägt wird von katholischem Christentum, aber er wird doch nuanciert durch moderne Lebensbezüge: Auch in Münster wird auf das Tempo der Menschen gedrückt, auch dort findet sich eine gewisse Unrast, eine Unstetigkeit, die ja auch überall sonst das Kennzeichen heutigen bundesdeutschen Lebens ist. Doch die Unrast wird hier aufgefangen. Es gibt Stunden der Besinnung, des Zusammenredens, der Kommunikation – an kirchlichen und weltlichen Festtagen oder in den tagtäglichen Stunden des Ausruhens im Café oder in der Kneipe, die sich niemand nehmen lässt. Standpunkte, die falsch oder richtig sein mögen, tauchen auf in einer Welt der Standpunktlosigkeit. Das schwebende, gleitende allzu schnell Verwischbare unserer Zeit setzt sich in solchen Ruhepunkten in Beständiges um. Ist dies der Prozess der Restauration?
Wo immer Geschichte noch trägt, ist es Pflicht, sich ihr zuzuwenden, wird Restauration zu dem, was heute getan werden muss, und damit zur Modernität. |
Wenn es ist, dann wäre dazu zweierlei zu sagen. Zuerst: Wo immer solche Kräfte noch vorhanden sind (wie hier in Münster), wo immer Geschichte noch trägt, ist es Pflicht, sich ihr zuzuwenden, wird Restauration zu dem, was heute getan werden muss, und damit zur Modernität. Und zum zweiten: wenn Restauration das Wiederfinden und Umgestalten alter Standpunkte zu neuer Beständigkeit ist, dann wird klar, warum alle Menschen, die vom Strom der Geschichtlichkeit nicht mehr getragen werden, neurotisch auf ihre glücklicheren Zeitgenossen reagieren müssen. Denn das einzige was den wurzellosen Menschen tröstet, ist die Wurzellosigkeit seines Nebenmannes.
Das Beispiel Münsters zeigt, dass das geistige Dilemma unseres geteilten Deutschlands zumindest auf der westlichen Seite oft das Dilemma einer Spannung zwischen den Beständigen und den Wurzellosen ist. Aber die Dinge liegen nicht so einfach, dass man der einen Gruppe Recht und der anderen Unrecht geben könnte. Vielleicht ist es ein Merkmal unserer Zeit, dass beide Gruppen nebeneinander leben müssen. Aber könnte es nicht auch ein Merkmal unserer Zeit sein, dass aus dieser Spannung einmal die Synthese zwischen gestern und heute, zwischen Vergangenheit und Zukunft erwächst? Lernen wir von den kleinen Synthesen, die sich überall anbahnen und die so leicht übersehen werden, lernen wir vom Wiederaufbau der Häuser und des Geistes der alten Stadt Münster!
(aus: Merianheft 1, 1957, Münsterland)
Bauen mit Geduld
Anton Henze (1913 – 1983)
Dieser Aufsatz von Anton Henze, erschienen im Merianheft „Münster“ von 1950, gibt einen einzigartigen Einblick in die Probleme, mit denen sich die Stadt kurz nach Beendigung des Krieges und seinen Zerstörungen konfrontiert sah. Konzepte des Wiederaufbaus wurden entwickelt und verworfen. Man sieht, dass die Lösung, die man gefunden hat, seinerzeit nicht unumstritten war.
Münster gehörte zu jenen Städten, die der Bombenkrieg tief ins Herz traf, die vom Kern aus zerstört wurden. Die Keimzelle der Stadt, der Dom, verlor nicht nur seine weitgespannten Gewölbe, in denen das romanische Raumgefühl sich technischer Neuerungen der Gotik bediente. Sprengbomben zerschlugen auch das Westwerk und rissen Stücke von den Türmen. Zwischen den Stümpfen der Türme liegt noch heute ein zyklopisches Trümmerfeld. Die bürgerlichen Hallenkirchen von St. Lamberti und Überwasser büßten ihre Gewölbe ein, konnten ihre Baukörper aber ohne größere Schäden bewahren. Die Ludgerikirche zeigt dagegen im romanischen Langhaus wie im gotischen Chor bedrohliche Wunden. Die kleine Servatiikirche, in deren Langhaus Eleganz und ritterliche Weltsicherheit des Staufenreiches sich in kleinen Verhältnissen niederschlugen, war als Ruine kaum noch zu erkennen. Die Kirchen der Renaissance und des Barock, vor allem die Jesuitenkirche, die älteste Kirche des Ordens in Nordwestdeutschland, und die Clemenskirche, das kleine Meisterwerk Johann Conrad Schlauns, sind vernichtet. Eine schon vom Klassizismus genährte Nüchternheit, die mit großen Wandflächen arbeitete, hat die Dominikanerkirche an der Salzstraße vor diesem Ende bewahrt.
Noch härter als die Kirchen schlug der Krieg die profanen Baudenkmäler Münsters. Am Prinzipalmarkt tragen vier mühsam sich haltende Arkaden auf ihren geborstenen Spitzbögen alles, was sich von der Schauseite des Rathauses erhielt: Reste der vier großen Maßfenster und einiger Standbilder. Die barocken Adelshöfe und Domherrenhäuser, die in Backstein mit Hausteingliederung gebaut, rot und gelb, zurückhaltend und doch festlich hinter den schmiedeeisernen Gittern ihrer Ehrenhöfe lagen, wurden zusammengeschlagen. Ihr schönster, der Erbdrostenhof, konnte sich wenigstens den größten Teil des architektonischen Gebäudes bewahren. Das andere große Bauwerk Schlauns, das Schloss der Fürstbischöfe, brannte aus. Die Schale des Baus blieb, Dekoration und Einrichtung, die zu den besten des Klassizismus zählten, gingen mit dem Festsaal, den Zimmern und dem Treppenhaus verloren.
Dieser Hinweis auf einige Trümmer und Ruinen des Jahres 1945 mag genügen. Hier wird nicht versucht, ein Inventar des Zerstörten anzulegen. Die Beispiele sollen lediglich den Verlust Untergang der alten Stadt Münster andeuten. Er erschöpfte sich nicht mit dem Verlust der großen Baudenkmäler und ihrer Beschädigung. Verhängnisvoller war die Vernichtung der Stadt als Gesamtkunstwerk. Auch in Münster zersprang die Einheit aus Grundriss und Aufriss, in der die großen Bauwerke die Richtzeichen sind, die Masse der schlichten Zweckbauten aber am Gesicht der Stadt mitbildet. Die Zusammenhänge von Gelände, Platz und Straße zerrissen. Der Prinzipalmarkt, voll Eigenart in seiner Durchdringung von Straße und Platz, wurde ausgelöscht. Alte Straßenzeilen stürzten so in sich zusammen, dass selbst der Sachkundige sie nicht wiedererkannte. Münster verlor sein Gesicht. Der Verlust wiegt schwer, da es ein ausgeprägtes Gesicht trug.
Eine Zerstörung von solchen Ausmaßen stellt die Überlebenden im zwanzigsten Jahrhundert vor verwickelte Probleme. Wie sollen sie ihre Stadt wiederaufbauen? Sollen sie die Ruinen abtragen und auf der eingeebneten Fläche eine neue Stadt im Stil der neuen Zeit bauen? Sollen sie die Ruinen so getreu ergänzen, dass der Blick das Neue nicht vom Alten scheiden kann? Sollen sie verlorene Bauwerke, die geschichtlichen und künstlerischen Rang hatten, als Kopien wiedererrichten?
Frühere Zeitalter kannten in solcher Lage nur eine Möglichkeit: den Neubau im Stil der neuen Zeit. Ergänzung der Ruine im Stil des Zerstörten war unbekannt. Größere Verluste ersetzte man im Stil der neuen Zeit, einer romanischen Kirche des runden Bogens baute man ohne Bedenken ein Chor in der wandauflösenden Spitzbogenarchitektur der Gotik an. Ergänzung im alten Stil kam nur bei kleineren Schäden, etwa dem Einsturz eines Gewölbes, in Frage. Die großen Architekten des zwanzigsten Jahrhunderts, Kunstwissenschaftler und Theologen denken ebenso. Mahnendes Zeugnis für ihre Übereinstimmung mit den selbstverständlichen Gepflogenheiten der Stilzeitalter bis zum Barock sind die zwölf Vorträge, die bekannte Männer des Rheinlandes der Frage nach dem Schicksal der zerstörten Kirchen Kölns widmeten. Wer zum Aufbau einer zerstörten Kirche spricht, wird den Sammelband, in dem die Gesellschaft für christliche Kultur ihre Vorträge vereinte, um ihre Meinung fragen müssen.
Was schlagen sie vor? Sie treten für den Neubau des Zerstörten und eine neutrale oder moderne Ergänzung der Schäden ein. Die Ergänzung soll kenntlich sein und sich nicht täuschend dem Alten angleichen. Carl Oskar Jatho beruft sich dabei auf das Zeugnis Rodins: „Eine Kunst, die Leben in sich hat, restauriert die Werke der Vergangenheit nicht, sondern setzt sie fort. Die Verwüstungen der Zeit berauben uns nicht der Schönheit. Die wahren Feinde der Architektur und Skulptur sind die schlechten Architekten und Bildhauer, - die großen Modechirurgen, die vorgeben, die verlorenen Glieder des Kranken künstlich wiederherzustellen.“
Es sei indessen nicht übersehen, dass die Kunst auch eine zweite grundsätzliche Möglichkeit kennt: die Kopie, die Wiederholung oder Nachbildung eines Kunstwerks durch eine andere, auch spätere Hand. Die Kopie war früher zwar vornehmlich bei Gemälden und Plastiken bekannt, sie könnte jedoch auch eine Möglichkeit der der Architektur werden. Wie weit eine Kopie Kunstwerk wird, hängt von der künstlerischen Kraft des kopierenden Malers, Bildhauers oder Architekten ab.
Während Köln sich unter seinem genialen Stadtbaumeister Rudolf Schwarz für den Neubau und die klare Grenze zwischen Original und Ergänzung entschied und Frankfurt beim Wiederaufbau des Goethehauses die getreue Kopie vorzog, wählte Münster (wenn ich Neuerrichtetes und Geplantes richtig sehe und begreife) einen dritten Weg: die „schöpferische Denkmalpflege“, die Carl Oskar Jatho in seinem Kölner Vortrag erwähnte. Sie erstrebt eine „positive Form des vielgeschmähten Purismus, ein Bauen nach geschichtlichen Stilanalysen“, Wiederherstellung oder Wiederaufbau eines Bauwerks in der reinen, der Idealform des alten Stils.
Der Verlust der Gewölbe, Löcher und Breschen im Mauerwerk sind für Bauten des romanischen und gotischen Stils Einbußen am Ursprünglichen, die schmerzen. Falls der Schaden sich in den Grenzen hält, lässt sich jedoch über eine Wiederherstellung sprechen. Vom Dom erhielt sich so viel, dass sie möglich erschien. Die Arbeiten begannen am Paradies, der Torvorhalle, an deren Wänden sich die großgedachten Standbilder des dreizehnten Jahrhunderts erhielten. Überdachung von Chor, Mittelschiff und des Kapellenkranzes folgten. Man will sie in der alten Form wieder einwölben. Schwieriger dürfte die Wiederherstellung des völlig zerschlagenen Westwerks sein. Für den Wiederaufbau wurde ein Verzicht auf die gotischen Zutaten vorgeschlagen. Die neue Westseite würde dann auf das große Maßwerkfenster und das spitzbogige Portal zugunsten eines Rundfensters und einer Pforte unter rundem Bogen verzichten und die Form des romanischen Ursprungs zurückgewinnen. Diese Wiederherstellung soll sich nicht nur der alten Stilformen, sondern auch ihrer Materialien bedienen. Der Verzicht auf Zement und Eisen, der Rückgriff auf Haustein und Rippengewölbe sind sehr teuer. Es wäre möglich, dass diese Wiederherstellung auf die Dauer am Preis scheitern und die Not zu einer Ergänzung mit modernen Mitteln zwingen würde.
Die spätgotische Bürgerkirche St. Lamberti, die den Schatten ihres Maßwerkturms über den Prinzipalmarkt wirft, konnte ihren Baukörper bewahren. Die verlorenen Gewölbe und Fenster sind inzwischen ersetzt. Die schöne Halle hat ihre alten Verhältnisse und ihren festlich-intimen, durchsichtigen Raum zurückgewonnen. Nicht ganz so glücklich war die Liebfrauenkirche Überwasser. Der stumpfe Turm und seine Halle blieben ohne Schaden. Das Langhaus konnte wieder eingewölbt und verglast werden. Es schließt jedoch unmittelbar mit einer neuen Wand, die den noch nicht wiederhergestellten Chor abtrennt. Da diese Hallenkirche des vierzehnten Jahrhunderts kein Querschiff hat und der Chor wesentlich zum Raumbild beitrug, bleibt zu hoffen, dass die Notlösung nicht zu einem Zustand von Dauer wird. Die Ludgerikirche, im neunzehnten Jahrhundert bedenklich restauriert und mit neuen Türmen ausgestattet, wurde stark angeschlagen. Ob man nach einer abermaligen Wiederherstellung noch von einem Bauwerk romanischer oder gotischer Herkunft sprechen kann, scheint zweifelhaft. Vielleicht wäre ein Neubau auf altem Grundriss bei Übernahme der standfesten Mauerreste vorzuziehen. Das wäre weder ungeschichtlich noch unmodern. Gotik und vor allem Barock arbeiten so, und Domenicus Böhm denkt in seinem Plan für die Wiederherstellung der barockisierenden Antoniuskirche aus dem neunzehnten Jahrhundert in Münster nicht anders
"Wie froh seid Ihr heute, dass Euer vom Krieg zerstörtes Gotteshaus wieder schöner als zuvor entstanden ist..." (Michael Keller, Bischof von Münster, zum Wiederaufbau der Antoniuskirche an der Weselerstraße/Moltkestraße). Heute gilt Sankt Antonius, eingeklemmt zwischen zwei vierspurige Straßen, als eine der unansehnlichsten Kirchen Münsters. |
Die Bauwerke des Barock sind eine nahtlose Einheit von Außen und Innen, von Mauer und Zierwerk und Raum. Ihr Original geht schon mit der fallenden Decke und der stürzenden Mauerkrönung unwiederbringlich verloren. Dieses Schicksal erfüllte sich an der Clemenskirche. Von der glücklichen Hand Johann Konrad Schlauns, die den kleinen Rundbau zwischen die Flügel des Hospitals in den Straßenwinkel stellte, zeugen nur noch der zerschlagene Mauerkranz und das geborstene Portalrisalit. Eine Wiederherstellung des schwungvollen Rokoko, das Kuppel und Wände in Stuck und Malerei überzog, ist unmöglich. Der atmende und schwingende Raum, in Formen und Farben, mit Licht und Schatten geistvoll und sinnenfreudig gebildet, wird uns nie wieder festlich empfangen.
Die Dominikanerkirche an der Salzstraße, in deren Fassade und großflächigem Mauerwerk der römische Trotz des Barock sich mit westfälischer Schwere verschwisterte, ließe sich durch eine neue Decke und Ausbesserungen retten.
Der Mangel an Kirchenraum forderte, Pfarrkirchen wie die von Lamberti und Überwasser schnell wiederherzustellen. Bei anderen Kirchen, vor allem beim Dom, sollte man sich zeit für Plan und Ausführung lassen. Aller Wiederaufbau leidet heute unter Mangel an Zeit. Bei einem Bauwerk wie dem größten der westfälischen Dome dürfen wir uns des langen Atems und der Geduld des Mittelalters erinnern, dessen Domen und Kathedralen eine Bauzeit von einem oder mehreren Jahrhunderten nicht schlecht bekam.
Für den Bau neuer Häuser am Prinzipalmarkt stehen naturgemäß keine Jahrzehnte zur Verfügung. Die Kaufleute drängen an den alten Brennpunkt des Handels zurück. Das ist zu verstehen und zu begrüßen. Da die Häuserseiten zwischen Lambertikirche und Michaelisplatz so gut wie ausgelöscht waren, stand eine Wiederherstellung von Ruinen nicht zur Debatte. Die Bogenhäuser, in deren Giebel sich die Schmuckformen der Gotik, der Renaissance und noch des Klassizismus zurückhaltend und doch reizvoll zum Dienst am Kunstwerk des bürgerlichen Platzes fanden, waren für immer verloren. Ich war nicht der einzige, der vorschlug, einen neuen Prinzipalmarkt im Stil des zwanzigsten Jahrhunderts zu bauen. Allein wichtig erschien mir, dass die künstlerische Qualität des neuen dem alten die Waage hielt. In der Hand eines Baumeisters von europäischem Rang wäre dieser Neubau die künstlerische Chance für Münster gewesen. (Baumeister solchen Rangs lagen im Jahre 1945 auf der Straße.) Moderne Bogenhäuser hätten sich durchaus mit der spätgotischen Lambertikirche und einer getreuen Kopie der Schauseite des Rathauses vertragen, so wie am alten Prinzipalmarkt Häuser der verschiedensten Stile einander und den Eindruck des Platzes nur steigerten.
Man wählte jedoch einen dritten Weg. Man abstrahierte sozusagen aus den alten Häusern ihre allgemeine Idee und den Rhythmus der Giebel und baute sie in neuen Giebelhäusern mit Hausteinfassaden über Bogengängen an den Platz. Ich kenne Bürger der Stadt, Architekten und Kunsthistoriker, denen die Lösung angemessen und modern erscheint, andere Bürger der Stadt, Architekten und Kunsthistoriker, halten sie für verfehlt. So schrieb Franz Klemens Gieseking in einer münsterschen Zeitung: „Das Alte, Versunkene ist schon aus finanziellen Gründen in keiner Weise mehr zu erreichen. Darüber ist man sich einig. Stattdessen ging man mit dem Zeichenstift daran, eine Abwechslung in der Gestaltung und Krönung der Giebelhäuser vorzuschlagen, die an die alten, stilgewachsenen, innerlich aus ihrer Zeit begründeten Bauten nur ganz entfernt erinnert, also weder echtes Altes noch etwas originelles Neues, sondern nur eine bunte Aneinanderreihung von Baukastenformen darstellt. Das ist eigentlich die naivste ‚Lösung‘, die man finden konnte. Man hätte sich lieber entschließen sollen, etwas ganz Neues, Bescheidenes, dennoch Traditionsverpflichtetes aufzurichten, das im Rhythmus der Giebel und Bögen in etwa dem vertrauten Charakter entsprach, dem Bauempfinden und dem Vermögen unserer Zeit gerecht wurde und damit sogar auf die älteste Gestalt des Prinzipalmarktes hinwies. Statt dessen wächst heute ein Prinzipalmarkt heran, von dem in seiner fast willkürlich ausgesuchten, wenn auch in Höhe und Linienschluss einigermaßen ausgeglichenen Aneinanderreihung der ‚Varianten‘ kein Mensch, auch keiner der aufsichtsführenden Bauverwaltung, sagen und begründen kann, wieso das entweder Ausdruck unserer Zeit oder auch nur irgendwie vertretbare Kopie sei.“
Da man sich nun für Neues nicht entschließen konnte, wäre, so scheint mir, eine getreue Kopie des Alten diesem dritten Weg vorzuziehen gewesen. Die bis zum Frühjahr 1950 erbauten Häuser finde ich in ihren Rückseiten am glücklichsten. Ihre schlichten Ziegelsteinflächen sind zweckmäßig, echt und modern. Der Mut zum Einfachen dürfte Kennzeichen der Kunst unserer Zeit und eine allgemeine Forderung der Zukunft sein.
Das architektonische Gehäuse des Schlosses fand jetzt eine neue Bestimmung. Es wird Hauptgebäude der Universität. Für ihre Zwecke wurden ihm Hörsäle und andere Räume eingebaut. Das gebleichte Bauskelett, das sich 1945 gespenstig vor der dunklen Hintergrund des Schlossgartens legte, wird Haus eines neuen Lebens. Mögen wir um das Verlorenen trauern, mag uns das Plattformdach über dem Mittelbau stören, im Licht der atmosphärisch verhangenen Szene des Münsterlandes gewinnt der Rest aus glücklichen Tagen etwas von der duftigen Unbeschwertheit des Rokoko zurück, die sich in diesem letzten Schloss des deutschen Barock geistvoll und sinnenständig der großen Form vermählte. Alte Adelshöfe, die in ähnlicher Weise einem Zweck dienen, wurden inzwischen ebenfalls ausgebaut. Der Druffelsche Hof an der Königstraße nahm eine Bank auf. Der Bischöfliche Hof, der sich einen Flügel bewahrt hatte, wurde in schlichter Form ergänzt. Bemerkenswert, dass eine Instanz der Kirche auch hier (wie bei der Antoniuskirche) statt des dritten Weges den Stil des zwanzigsten Jahrhunderts wählte. Den Auftrag für die Kapelle des Bischofs, die einem Flügel des Hofs angebaut wird, erhielt Hans Dinnendahl, bekannt als Meister moderner christlicher Plastik. Bau und Ausstattung liegen in einer Hand, die für ein kleines, beispielhaftes Gesamtkunstwerk im legitimen Zeitstil bürgt.
Der schönste Adelshof des alten Münster, der Erbdrostenhof, den Schlaun 1754 bis 1757 unter genialer Ausnutzung des beschränkten raumes in den Winkel der Salzstraße und Ringoldgasse stellte, verfällt als Ruine zwischen den neuen Geschäftsbauten der Salzstraße. Der schmiegsamen, dreimal aus einem gestreckten Halbkreis zurückweichenden Straßenfront fehlt der Flügel an der Salzstraße. Trotzdem bleibt sie auch in der kulissenhaften Zerbrechlichkeit ein Fest für die Augen, wie alle große Architektur noch im Bruchstück überzeugend. Sie würde mich bis in den Traum mahnen und verfolgen, trüge ich Schuld an ihrem Sterben.
Das Hauptwerk des münsterschen Klassizismus, der Romberghof, kam nicht einmal als Skelett aus dem Inferno. Der prunkvolle Sandsteinbau Ferdinand Lippers verlor seine Fassade und die Räume mit der zarten Louis-Seize-dekoration durch Brand. Der eindrucksvolle Porticus, der mit seinen vier standfesten Sandsteinsäulen der Vernichtung getrotzt hatte, wurde aus Furcht vor dem Einsturz mit mechanisierter Kraft umgelegt. Jetzt will man auf dem Platz des Hofs die neue Stadthalle errichten. Da sich ein Stück der Rückwand des alten Baues erhielt, wird sie nach dem Entwurf des Baurats Scharff in einem allgemeinen Klassizismus gehalten werden.
Der Wiederaufbau einer Stadt kann sich nicht freimachen vom alten Grundriss. das unterirdische Geäder und Geflecht von Kanalisation, Wasserleitung, Gasrohren, Strom- und Telefonkabeln verbietet eine völlig neue Straßenführung auch in zerstörten Stadtteilen.
Trotzdem ist eine Korrektur möglich. Sie wurde auch in Münster angestrebt, sie wird weiterhin versucht, obwohl im Kern der Stadt, an der Salzstraße die Möglichkeit einer Verbreiterung und einer neuen Lösung gegenüber der Dominikanerkirche verpasst wurden.
Große Bauten sind stets nach einem mit dem Bauwerk wachsenden und sich wandelnden und vollendenden Plan gebaut worden. Wir sollten beim Wiederaufbau unserer Städte eine ähnlich organische Entwicklung ermöglichen und fördern und die heute vorliegenden Pläne nicht als unabänderlich ansehen oder mit Fanatismus verteidigen. Die kritischen Anmerkungen dieses Aufsatzes, Gegenstimmen und Gegenbeispiele wollen allein in diesem Sinne als Beitrag oder Aufforderung zu einer ständigen Diskussion über den Wiederaufbau Münsters und aller zerstörten deutschen Städte gewertet werden. Wir können auf diese Diskussion erst verzichten, wenn das letzte Bauwerk der Stadt vollendet ist.