Spiegelbilder der Zeit
Die Kunst im Münsterland
Im Münsterland führen alle Wege nach Münster. Die Stadt gab der Landschaft nicht allein den Namen. Sie ist ihre geographische, geschichtliche und geistige Mitte. Es gibt Landschaften, die alle ihre Kraft auf die Mitte wenden. Alles, was ihnen an Form, Geist und Geschichte gegeben wird, häufen sie in ihr auf. Leer und fast geschichtslos legen sie sich in den Schatten ihrer großen Stadt. Das Verhältnis des Münsterlandes zu Münster ist nicht von dieser Art; es wird von dem schönen Gleichgewicht des Gebens und Nehmens bestimmt. Alle Wege des Landes führen auf Münster zu; sie gehen aber auch von Münster in das Münsterland. Wer die Kunst des Landes betrachtet, findet dieses Verhältnis als geschichtliche Entwicklung und Gestalt. Was sich im Lande als Muster und Grundzug bildete, reift in der Stadt zum Gültigen. Anderes scheint sich allein in der Stadt entwickelt und vollendet zu haben, wieder anderes nur im Münsterland.
im Zeitalter Karls des Großen war Westfalen eine Landschaft großer Geschichte. Auf westfälischem Boden vollzog sich die Einordnung der Sachsen in das karolingische Reich, ein nachhaltiges Ereignis in der Entwicklung des Abendlandes. Der großen Geschichte entsprach eine große Architektur. Wir kennen Sie nur aus den Fundamenten, die der Boden durch die Jahrhunderte bewahrte. An einer Furt durch das Flüsschen Aa baute der heilige Liudger, erster Bischof von Münster, um 805 seinen Dom. Er war eine schlichte dreistufige Basilika.
Genauer unterrichtet sind wir über die Stiftskirche in Vreden im nordwestlichen Münsterland. Vreden war eines der ersten Klöster im Sachsenlande. Graf Wigbert, ein Sohn Widukinds, des sächsischen Gegenspielers Karls des Großen, war sein Stifter. Die Grundmauern nun fanden sich unter der im 15. Jahrhundert errichteten Pfarrkirche. Da diese im letzten Krieg zerstört wurde, war Gelegenheit gegeben, die alten Grundrisse durch Grabung festzustellen. Der Spaten des Forschers stieß auf die Schichten vieler Kirchen, die in den Bränden der Jahrhunderte vergangen waren. Man sprach von einem westfälischen Troja. Die erste Kirche, die um 839 erbaut sein dürfte, gehörte zu den großen Bauten, mit denen im 9. Jahrhundert die Geschichte der abendländischen Baukunst begann. Sie war eine dreischiffigen Pfeilerbasilika mit einem starken vierkantigen Turm im Westen und einem östlichen Querhaus. Der Bau erhielt später einen Chor und eine große Krypta. Aus dem Grundriss schließen wir auf eine Architektur von urtümlicher Dynamik. Wir erfahren vor allem, wie die sächsische Verehrung der Reliquien im 9. Jahrhundert immer mehr wuchs und wie sie immer größere Andachtsräume erforderte. Die Kraft der Architektur und die starke Reliquienverehrung, die sich uns im Grundriss der Krypta zeigt, erweisen den besonderen Rang des Stiftes Vreden.
In der Geschichte ist nicht nur groß, was erhalten blieb. Die Stiftskirche in Vreden war große Architektur, mag sie auch heute in der in die geometrischen Formen eines Grundrisses abgesunken sein. Südlich ihres Platzes begann um 1016 der Bau einer zweiten Stiftskirche. Sie hat sich erhalten; sie meint man heute, wenn man von der Stiftskirche in Vreden spricht. Bemerkenswerter als ihr einschiffiger Kirchenraum sind ihre Krypta, frühes und hervorragendes Zeugnis eines Gewölbebaus ottonischer Zeit, rein im Klang und edel in der Form von Säule und Pfeiler, und weiterhin das romanische Stufenportal.
Anschaulich im Licht unseres Tages steht auch noch die Stiftskirche in Freckenhorst, in der uns die späte Entwicklung jener in Vreden grundgelegten Architektur vor Augen tritt. Sie wurde ihres Westwerks wegen gepriesen, das sich mit dem mächtigen vierkantigen Mittelturm und zwei kleineren Rundtürmen wie eine Burg Gottes unter den weiten Himmel der münsterländischen Ebene stellt. In der Baugeschichte haben jedoch die Gewölbe, die etwas unbeholfen die schmalen Seitenschiffe der kreuzförmigen Basilika überspannen, eine höhere Bedeutung.
Die architektonische Leistung der abendländischen Kunst des 12. Jahrhunderts ist der Gewölbebau, jene Kirche, die in allen Räumen die bisher üblichen flachen Holzdecken durch Gewölbe ersetzte. Westfalen hat an der Entwicklung des Gewölbebaus mit Begeisterung teilgenommen. Frühes und denkwürdiges Zeugnis dafür sind die Gewölbe der Seitenschiffe in Freckenhorst, um 1129 ausgeführt. Mochte der kühne Plan, auch das Mittelschiff einzuwerben, in jenen Jahren noch scheitern, eine neue Möglichkeit der Raumbildung war gewonnen, die entscheidend zur eigentümlichen Raumform Westfalens und des Münsterlandes beitrug
Im Kreis der münsterländischen Klosterkirchen treten neben Vreden und Freckenhorst die Kirchen in Cappenberg und Marienfeld hervor. Sie sind architektonische Zeugnisse Westfalens aus der deutschen Kaiserzeit, der Jahrhunderte bis zum Ende des staufischen Reiches, in denen Geschichte und Kunst des Münsterlandes von den großen und kleinen Klöstern, vom Bischofssitz Münster bestimmt waren.
Neben diese ritterlich-mönchischen Kräfte treten bereits um 1200 die Bürger als zeitbestimmende Gesellschaft. Im Bannkreis von Bischofsitz, Kloster und Burg gründeten sie ihre Städte. Sie schließen sich in den westfälischen Städtebünden zusammen, gewinnen bedeutenden Rang in der Hanse und tragen wesentlich bei zur Besiedlung des Ostseeraumes bei. Das neue Zeitalter, die erste Bürgerzeit, fand Ausdruck in einer neuen architektonischen Bauform, der westfälischen Hallenkirche.
Im Gegensatz zum basilikalen Aufbau, der dem hohen Mittelschiff niedrige Seitenschiffe zuordnet und jedem Schiff eigene Fenster gibt, führt die Halle alle Schiffe zur gleichen Höhe empor. Der einheitlich hohe Raum erhält sein Licht allein aus den Fenstern der Seitenschiffe. Das Mittelschiff gibt seine beherrschende Breite zugunsten der breiter werdenden Seitenschiffe auf.
Dieses System war keine westfälische Erfindung. So war im 12 Jahrhundert in einigen Gegenden Frankreichs, vor allem in Anjou und Poitou, gebaut worden. Die französischen Hallenkirchen behielten jedoch die betonte Längsrichtung der die Zeit beherrschenden basilikalen Kathedrale bei; die Pfeilerreihen zwischen den Schiffen bewahrten ihre trennende Kraft. Die westfälische Hallenkirche verkürzt den Raum und nähert den Grundriss dem Quadrat an. Pfeiler und Säulen rücken weit auseinander und Seitenschiffe fließen ineinander. Die Gewölbe nehmen fast die Hälfte der Raumhöhe ein, sie werden zu raumbeherrschenden Elementen.
Die Hallenkirche ist die große schöpferische Tat der westfälischen Baukunst. Alle Landschaften Westfalens trugen zu ihrer Entwicklung bei. Den Beitrag des Münsterlandes zeigt die Billerbecker Johanneskirche. |
Sie ist eine Hallenkirche des gebundenen Systems: einem Gewölbejoch im Mittelschiff entsprechend zwei Joche in den Seitenschiffen. Die Gewölbe des Mittelschiffes sind etwas höher als die Seitenschiffgewölbe. Dieser Typ vermittelt zwischen der hergebrachten Basilika und dem neuen Raum. Nicht verwunderlich, dass er auf den 1225 in Münster begonnenen Dombau einwirkte, die basilikale Planung durchdrang und den größten westfälischen Dom zu einer geheimen Hallenkirche machte, deren Raum in seiner Weite und in seinem großartigen Rhythmus im Deutschland des 13. Jahrhunderts einzigartig wahr.
Der Typ fand im 13. Jahrhundert weitere gültige Verwirklichung in den Kirchen von Legden und Metelen und in der Spätzeit des 15. Jahrhunderts in der Sankt Georgskirche in Bocholt.
(Bocholt, Legden, Metelen/wikipedia)
Die westfälische Hallenkirche entwickelte sich als Pfarrkirche der erstarkenden Städte. Sie war erste Bürgerkirche und Raumtyp der folgenden Jahrhunderte. Aus dem Kerngebiet Westfalen drang sie in den nördlichen Raum Europas bis nach Schweden vor.
In der Bildhauerei und Malerei des Münsterlandes finden wir keine Typen und Werke, die es an schulbildender Bedeutung und an europäischer Strahlkraft mit der Hallenkirche des 13. Jahrhunderts aufnehmen können. Die Landschaft birgt jedoch Kunstwerke, die europäischen Rang haben. Plastische Werke dieser Art hat das Prämonstratenserkloster Cappenberg bewahrt, dass die Grafen Gottfried und Otto von Cappenberg auf ihrem Grafensitz im südlichen Münsterland gründeten.
Das Kopfreliquiar des 12. Jahrhunderts ist ein einmaliges Werk. Der Kopf trägt die Züge seines Stifters, des staufischen Kaisers Friedrichs I. Barbarossa. Alte Muster des Herrscherbildnisses, die persönlichen Züge des bezaubernden Kaisers und der hohe symbolische Sinn eines Reliquiengefäßes durchdringen sich in einem der denkwürdigsten plastischen Werke, das voll ist von der strengen Kraft und sakralen Kunst.
Die Verbindung des ritterlichen Bildes mit dem christlichen Symbol, die in dem Kopfreliquiar so nachhaltig angestrebt wurde, ist auch der Grundzug des Kruzifixes von Cappenberg. Es ist ein Werk der ersten Hälfte des 13 Jahrhunderts. In ihm erreicht die staufische Kunst ihren bildnerischen Gipfel in Westfalen. Christus am Kreuze ist ein ritterlich-schöner Mann und doch ganz majestätischer König. Der unbekannte Meister dieses Bildwerkes steigert die plastischen Bemühungen vieler Jahrhunderte zu einem reinen Klang. Er versucht in Körper und Linie, in Umriss und Ausdruck seines Bildes, was zur gleichen hohen Zeit des Abendlandes die Scholastik in ihrem großen, theologisch-philosophischen System, anstrebte: die Welt der Ideen und die Welt der Erscheinungen mit dem Christentum in Einklang zu bringen.
In den plastischen Bildwerken des Domparadieses in Münster neigt dieses Gleichgewicht sich bereits der Welt der Erscheinungen zu. Die Apostel, die zu Seiten der Pforte stehen, gehören der ritterbürtigen Familie der abendländischen Kathedralplastik an. Die Bischöfe und Heiligen an den Seitenwänden haben etwas von der Größe der Maria und Elisabeth am linken Portal der Turmseite von Reims. Wir sehen jedoch, wie die reiche Formwelt der Kathedralplastik sich vereinfacht. Es kommt in diesen Standbildern zu einem ersten typischen Ausdruck des westfälisch-münsterländischen Charakters. Er ist noch nicht in persönlichen Zügen zu erfassen, wohnt aber dem Ganzen der Gestalten bis in die schwermütig-träumerische Hingabe des unvergesslichen hl. Laurentius inne.
Aus dieser beginnenden Welt des Individualismus scheint eine der eigenartigsten Schöpfungen der münsterländischen Plastik in den reinen Raum des Symbols zurückzuführen. So könnte man meinen, man sieht die Gabelkruzifixe in Coesfeld, Haltern, Darfeld, Bocholt und an anderen Orten des Landes. Statt des königlichen Christus stellen sie den geschundenen und zerschlagenen Schmerzensmann mit allen grausigen Zeichen des Kreuzestodes als expressives Gefäß der Qual vor, das mit Aststümpfen übersäte, wie ein Aufschrei wirkende Marterholz des Gabelbaumes. Quelle dieser Kunstwerke, die sich im 14. Jahrhundert nur in wenigen Landschaften entwickelten – neben dem Münsterland vor allem im Rheinland und in Österreich –, ist jedoch nicht die objektive Welt der Symbole, sondern die Mystik, die persönliche Versenkung in das Leiden Christi, eine ganz individuelle Art der Andacht.
Anmerkung: Ein Gabelkreuz, auch Crucifixus dolorosus, Mystikerkruzifix, Gabelkruzifix, Schächerkreuz, oder Pestkreuz ist ein besonders ausdruckstarker gotischer Leidenskruzifixtypus in Y-Form, der nach neuerer Forschung unter dem Einfluss der Mystik im späten 13. oder frühen 14. Jahrhundert entstanden ist und insbesondere im Rheinland anzutreffen ist. (deacademia.com)
Da sich das größte Gabelkreuz Deutschlands in der Coesfelder Lambertikirche befindet, spricht man auch vom Coesfelder Kreuz. |
Sehen wir uns in der Malerei nach ähnlichen Schwerpunkten um, so müssen wir uns auf das 15. Jahrhundert beschränken.
Der Meister des Schöppinger Altars, der wahrscheinlich Dietrich zur Wayge hieß und vielleicht in Coesfeld wirkte, entfaltet in seinen Altären die Leidensgeschichte Christi mit vielen Figuren, in bewegten Aufzug der Reiter und der Gruppen. Mit der tumultuarischen Bewegung eines mittelalterlichen Mysterienspiels bringt er das Ereignis in eine grüne Landschaft, an deren Horizont die Türme der Stadt stehen. Auf den Horizont senkt sich noch der metaphysische Himmel aus Gold, der alte heilige Grund der abendländischen Malerei. Zwischen dem alten und dem Neuen hat der Meister von Schöppingen Stellung bezogen, sich vielen Anregungen geöffnet und bemüht, zu vermitteln.
Konsequenter Vertreter des frühen Realismus ist Johann Koerbecke in Münster. Sein zentrales Werk, der Altar für das Zisterzienserkloster Marienfeld, zählt zu den bedeutendsten Leistungen der Malerei um 1450. Er stellt den persönlich gesehenen Menschen in das sakrale Bild. Die Apostel und Heiligen, die er in seine ausführlich geschilderten Landschaften und auf die städtischen Plätze bringt, sind bei allem Glanz des Himmels, der auf den Gesichtern liegt, münsterländische Bürger, wie sie damals durch die Straßen von Coesfeld und Münster gingen.
Der große Unbekannte, der den Altar für das Kloster Liesborn im östlichen Münsterland schuf, scheint in seiner sanften Anmut und männlichen Kraft dagegen zurückzuweisen auf Conrad von Soest, das große Gestirn westfälischer Malerei am Beginn des Jahrhunderts.
Unter seiner Beseelung spüren wir jedoch die neuen Kräfte des Realismus. Die starken Volumen der Köpfe und Körper, der plastisch begriffene, hallende Raum trennen das Werk deutlich vom Marienalter des Conrad von Soest in Dortmund. Die oft beobachtete Verwandtschaft dürfte eher geistiger Art sein. Gleich Conrad von Soest erreicht der Meister von Liesborn im neuen Bild das Symbol, im körperlich gestalteten, individuell gesehen Menschenbild das Gefäß des Heiligen. Die Werke münsterländischer Kunst, die unser knapper Überblick zeigte, sind nicht nur auf der künstlerischen Höhe ihrer Zeit. Sie stehen auch am Beginn in ihrer Art und ihres Typs. Dieses Gesetz der westfälischen Kunst erfüllte auch Israel von Meckenem, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Bocholt lebte.
Israel von Meckenem vermittelte zwischen dem Spätmittelalter und der Neuzeit; er stand im Dienst des städtischen Bürgertums. Ihm dienten auch die Maler Ludger tom Ring, d. Ä. und sein genialer Sohn Hermann tom Ring. Ihr Werk scheint sich jedoch ganz im Raum der Stadt Münster verwirklicht zu haben. Das Münsterland gewinnt noch einmal Ausdruck in der Baukunst der neuen Zeit. Sie wird nicht mehr vom Bürgertum alter Prägung, sondern von einer höfisch-aristokratischen Gesellschaft getragen, die im Landesherrn, im Fürstbischof von Münster, gipfelt. Den letzten großartigen Bürgerbau, das Rathaus zu Bocholt, einem der reinsten Bauwerke der deutschen Renaissance, folgen die barocken Wasserschlösser des Fürstbischofs und des Adels. In Ahaus, Raesfeld, Darfeld und Nordkirchen entwickelten sie sich zu einer reizvollen Eigenart, die in der Stadt Münster am Ende der Epoche durch Johann Conrad Schlaun zur Vollendung reift. Sein Erbdrostenhof und sein Residenzschloss sind der wehmütig-große Ausklang des europäischen Barock, gebaut als der letzte große Stil des Abendlandes in anderen Landschaften schon erloschen war. Der Weg der Formen und der Räume ging noch einmal aus dem Münsterland nach Münster.
Dr. Anton Henze, geb. 1913 in Hohehaus/Kr. Höxter, gest. 1983 in Rom, besuchte in Münster das Gymnasium Paulinum und studierte später Kunst- und Literaturgeschichte in Münster und München. In den 50er Jahren arbeitete er als Feuilletonist für die Westfälischen Nachrichten. 1959 ging er nach Rom und verfasste zahlreiche Kunstführer über Italien. Er liegt auf dem Campo Santo Teutonico begraben.