Melchior Lechter |
Im Zusammenhang mit der Wiederentdeckung des Jugendstils ist auch das Werk Melchior Lechters, des in Münster geborenen Künstlers der Jahrhundertwende, erneut gewürdigt worden. Die Anerkennung, wie man dem künstlerischen Werk Lechters nun entgegenbringt, verbindet sich nicht selten mit einer Würdigung seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit, was seinen Grund darin hat, dass das künstlerische Schaffen und eine besondere Lebensform bei ihm eng aufeinander bezogen sind. Die Kunst war für ihn das Leben, wie ihm das Leben zur Kunst wurde, und beides, Werk und Persönlichkeit, sind entscheidend geprägt von der Heimatstadt Münster.
Am 2. Oktober 1865 Ist Melchior Lechter in Münster geboren; er verlebte seine Kindheit in der Krummen Straße und später im Hause Bergstraße 23. Als Vierzehenjähriger begann er die Lehre bei einem Glasmaler, wo er die handwerkliche Ausbildung erhielt, die zu einer Grundlage seiner Kunst werden sollte. Die ersten künstlerischen Eindrücke, die sein späteres Schaffen bestimmten, empfing er durch die Kirchenbaukunst seiner Heimatstadt, oder aber durch den Spätnazarener Settegast, dessen Wandgemälde er in der Aegidienkirche entstehen sah. Schließlich ist das auffälligste Kennzeichen der Kunst Melchior Lechters ihr unverkennbarer spiritueller Charakter, auf frühe Erlebnisse in Münster zurückzuführen, wie schon Friedrich Wolters, der Freund Stefan Georges und Biograph Lechters, hervorgehoben hat.
Das künstlerische Werk jedoch, das den Namen Lechter berühmt machte, entstand nicht in Münster, sondern im Berlin der Jahrhundertwende. Hierhin war Lechter als Achtzehnjähriger übergesiedelt, um die Kunstakademie zu besuchen, an der er dann zehn Jahre lang blieb. Erst in Berlin lernte er die Strömungen der zeitgenössischen Kunst und die Dichtung und Musik seiner Gegenwart kennen. Unter den Komponisten galt seine ganze Vorliebe Richard Wagner, dessen Opernaufführungen er auch in Bayreuth häufig miterlebte, und in der Dichtung wurde Stefan George das bewunderte Leitbild. Die bildende Kunst seinerzeit maß er an Arnold Böcklin, Max Klinger und den englischen Präraffaeliten; in ihrer Nachfolge fasste er sein Werk auf, das zu einem frühen Zeugnis des deutschen Jugendstils wurde.
| Ein Beispiel Jugendstil Kunst ist hier das Titelbild zu Maurice Maeterlincks Dichtung „Der Schatz der Armen“ (1808) ausgewählt. Kein bestimmtes Motiv Ist Mir wiedergegeben, stattdessen ein gedanklicher Inhalt zum Thema erhoben: die Gralsburg, in welcher ders „Schatz der armen“ gehütet wird. |
Auf den Kontrast von Schwarzweiß-Werten reduziert, besteht das Bild in seiner Form nur aus Linien und Flächen; den senkrechten Linien der Burg etwa steht der Halbkreis des Himmels entgegen, wie der Strenge symmetrische Aufbau des Ganzen durch die Wellen des Wassers und die Lichtstrahlen belebt wird. Ein ausgewogenes Verhältnis von hellen und dunklen Teilen, von statischen und bewegten Linien, gibt den Bild den besonderen Reiz.
Die Gralsburg hat Lechter nicht, wie noch die Skizzen, als Einzelblatt empfunden, vielmehr als Titelbild zu seinem Buche, das insgesamt nach seinen Angaben hergestellt wurde. Der Maler ist hier zum Buchgestalter geworden, der sich nicht allein darauf beschränkte, die Buchillustration zu zeichnen, sondern auch die Wahl des Papiers bestimmte, den Einband, die Drucktype schuf und den Satzspiegel anordnete, um so dem dichterischen Inhalt eine buchkünstlerische Entsprechung zu bieten. – Der „Schatz der Armen“ ist das früheste der einheitlich gestalteten Bücher Lechters, vorhergegangen aber waren schon Einbandentwürfe, unter denen sich der zum „Jahr der Seele“ von Stefan George hervorhebt; für den ihm freundschaftlich verbundenen Dichter hat Lechter noch zwei weitere Werke ausgestattet; und 1909 gründete er sogar einen eigenen Verlag, die „Einhorn-Presse“, aus der eine Reihe von erlesenen Büchern hervorging. Diese Ausgaben erschienen In begrenzter Auflagenhöhe, häufig wurde zudem jedes Exemplar nummeriert und signiert, um dadurch den Wert des einzelnen Werkes zu betonen, das mit seinem ausgewählten Material, mit seinem Einband aus Pergament, Leder oder Gold und seiner Ausschmückung ein kostbares „Kunstwerk“ darstellte, in welchem Lechters Kunstauffassung und seine handwerkliche Gesinnung zusammenfanden.
Ähnlichen Absichten folgte der Künstler auf anderen Gebieten des Kunsthandwerks, denn neben der Buchkunst sind Exlibris und Warenzeichen, Plakate und Prospekte zu nennen, und selbst Schmuckstücke ließ er nach seinen Vorzeichnungen anfertigen. Nicht zuletzt aber zeigen seine Glasfenstergestaltungen die immer wieder gesuchte Verbindung von Kunst und Handwerk. Viele von ihnen sind leider zerstört, so Die Fenster des Romanischen Hauses in Berlin, jedoch das große Glasfenster-Triptychon des Landesmuseums in Münster ist erhalten und beweist noch heute die Materialkenntnis Lechters und seine Fähigkeit, den farbigen Glas ein Leuchten abzugewinnen, das an alte Kirchen erinnert.
(Sreenshot aus einem Video des LWL-Museums in Münster)
Auch in der eigenen Wohnung in der Kleistraße, die für George zeitweilig der Versammlungsort seines Kreises war, vermittelte eine Atmosphäre, in der sich der Künstler nach eigenem Zeugnis „wie in einer Kirche“ fühlte. Auf diese erhabene Feierlichkeit war die gesamte Inneneinrichtung abgestimmt, die von der Tapete bis zu den Möbeln, vom Teppich bis zum Leuchter, insgesamt nach eigenen Entwürfen hergestellt war.
Bei der Einrichtung seiner Wohnung beteiligte er, umfassender noch als bei den als bei anderen Aufgaben, erneut die verschiedenen Sparten des Kunsthandwerks, gemeinsam mit den „hohen“ Künsten, so dass man mit Recht von einem „Gesamtkunstwerk“ im Kleinen sprechen konnte. Auf monumentale Weise wiederholte Lechter dieses „Gesamtkunstwerk“, als er 1898 die Ausstattung des „Pallenberg-Festsaales“ im Kölner Kunstgewerbemuseum übernahm, wo er wiederum die Malerei, die Glasfenster, die handwerklichen Arbeiten der Holzvertäfelung und der Applikationsstickerei entwarf oder selbst ausführte und so dem Thema des Raumes, der Darstellung der Künste, einen festlichen Rahmen verlieh.
Als „Symbol der geistigen Bewegung um 1900“ ist dieser Saal ehemals bezeichnet worden, der auf der Pariser Weltausstellung auch den Grand Prix erhielt, wodurch man ihn als einen wichtigen Beitrag zur Kunst der Jahrhundertwende anerkannte. Lechter hatte in ihm verwirklicht, was die Kunst um 1900 anstrebte, und ein allgemeines Problem des Jugendstils gelöst, das durch die technische Entwicklung Im Laufe des 19. Jahrhunderts gestellt worden war.
Die neue Technik ermöglichte ja, Bücher oder Möbel, Gebrauchsgegenstände überhaupt, in Massenanfertigung herzustellen, aber dabei wurde der Künstler, je weiter die Technisierung fortschritt, immer mehr von der Gestaltung ausgeschlossen. Deshalb hatte der Gewinn auch einen Verlust im Gefolge, Form und Schönheit der Dinge gingen verloren. Die Künstler des Jugendstils wollten diese Entwicklung rückgängig machen, indem Sie zu Kunsthandwerkern wurden und sich neben der Malerei vor allem der Gestaltung alltäglicher Gebrauchsgegenstände annahmen.
Auch Melchior Lechter war von dem Entschluss bestimmt, dem Geschmacksverfall seiner Zeit entgegenzuwirken. Weil er den „Barock-Schwindel-Stil“ in Serienanfertigungen verachtete, gestaltete er seine eigene Wohnung „einfach und stilvoll“ und Verfolgte damit zwei Ziele, die fast alle Jugendstilkünstler erreichen wollten. So schloss er sich zwar der Neuen Stilbewegung an, aber andererseits waren, wie schon betont, die Grundlagen seiner künstlerischen Tätigkeit in Münster und seiner Tradition gelegt, was nun wie ein Widerspruch erscheint, für Lechters gesamtes Kunstschaffen jedoch kennzeichnend ist.
Als Melchior Lechter sich, wie die übrigen Künstler des Jugendstils, dem Kunstgewerbe zuwandte, war er seiner Herkunft nach nicht zunächst als Maler, sondern als Kunsthandwerker ausgebildet; er konnte in der kunsthandwerklichen Reformbewegung um 1900 bereits anwenden, was ihnen die handwerkliche Tradition gelehrt hatte. Darin unterscheidet er sich von anderen, dass er die Forderung nach Materialgerechtigkeit nicht erst programmatisch erhob, sondern seit seiner Jugend befolgte.
Neben die materialbezogene Herstellung der Bücher, der Glasfenster oder seiner Wohnung trat als ein gleichberechtigtes Ziel die Überhöhung durch die stilvolle Zierform. In deren Gestaltung, etwa in der flächigen Stilisierung der Gralsburg, wird ebenso ein allgemeines Kennzeichen des Jugendstils offensichtlich, während das Motiv selbst, die gotische Burg, in der Kunst der Jahrhundertwende nicht ein zweites Mal anzutreffen ist. Auch die übrigen Motive, die sein Werk begleiten, die Engel und Harfen, die Weihrauchgefäße und Rosengirlanden, finden kaum einen Vergleich. Wieder unterscheidet er sich hier von anderen Künstlern des Jugendstils, die eher modernere Themen bevorzugten, und bei denen Lilien und Schwäne oder die Flora häufig variierte Sinnbilder sind. Lechter wählte historisierende und sakralisierende Motive, weil allein sie ihm geeignet schienen, den feierlichen Charakter seiner Kunst wiederzugeben. In ihrer Bevorzugung und in der Lebenshaltung, aus der heraus sie gewählt wurden, zeigt sich eine Erinnerung an Einflüsse aus der Jugendzeit, was Lechter auch selbst bestätigte: „Sie waren der Untergrund, der Unterbau für meine Kunst, diese Jugend Eindrücke in Münster.“
In Münster vermittelte ihm die handwerkliche Ausbildung eine Grundlage seiner Kunst, hier wurde aber ebenso seine Lebenshaltung geprägt, die, ins Ästhetische transponiert, ihn zu einem esoterischen Künstler werden ließ. Die Anregungen der Gegenwartskunst in Berlin erweiterten die Jugendeindrücke aus Münster, und aus beidem entstand sein Werk als ein früher Beitrag zum deutschen Jugendstil. Die in der Heimat erworbene Bildung verhinderte allerdings auch, dass Lechter der fortschreitenden Entwicklung des Jugendstils über die Anfänge hinaus folgte. Strenger noch, als er es beabsichtigte, richteten spätere Jugendstilkünstler ihr Interesse auf die Material– und Funktionsgerechtigkeit, sie zitierten nicht mehr wie Lechner historisierende Formen mit ihrem erhabenen Assoziationswert, vielmehr gaben sie allein der zweckgerichteten Form den Vorzug.
Melchior Lechter aber blieb stets der ihm mitgegebenen Tradition treu er träumte, wie er in seinen letzten Briefen bekannte, „den mittelalterlichen Kunstraum weiter“, dessen Quelle seine „mittelalterliche Vaterstadt“ Münster war.
Jürgen Wissmann, in: Münster exclusiv
„Münster exclusiv“ ist eine in den 60er Jahren von Münsteraner Kaufleuten herausgegebene Zeitschrift mit anspruchsvollen Beiträgen zu Kunst und Kultur der Stadt)