Anneliese Balkenhol: Kriegstagebuch aus Münster

 

Verfasserin dieses authentischen Kriegstagebuches ist Anneliese Balkenhol, die später unter dem Pseudonym Anneliese Seibertz als Schriftstellerin tätig war und besonders in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Gedichte und Märchen in den Westfälischen Nachrichten veröffentlichte. Sie gehörte dem Deutschen Schriftstellerverband und der Künstlervereinigung „Peter Coryllis-Kreis“ an.
Anneliese Balkenhol wurde 1915 in Meschede geboren und wohnte während des Krieges mit ihrer Mutter, ihren Brüdern Edward und Norbert sowie später mit Edwards Frau, im Text „Macki“ genannt, in Münster.
2006 starb sie in einem Münsteraner Seniorenheim. Unter ihrem Nachlass fand sich dieses Kriegstagebuch. Den Krieg erlebte sie in Münster, Schlesien und Paderborn.
Die Rechte an diesem Text liegen bei ihrer Nichte Eva-Maria Wesselmann/Lengerich.
Der folgende Ausschnitt bezieht sich auf das Jahr 1944 in Münster.
(Die Erklärungen in Klammern wurden von mir  eingefügt.)

22.10.44

Wochen sind vergangen, und ich fand bis her keine Zeit, meine Berichte fortzusetzen. Auch jetzt kann ich nachträglich nur ein zusammen gedrängtes Bild all der Ereignisse geben, die geschahen.

Die Fahrt von Schlesien unterschied sich in nichts durch ähnliche Fahrten. Ein wahnsinniges Gedränge erregter Menschen, überfüllte Züge, in die man nicht hineinkam, stundenlanges Stehen auf Strecken, wo die nahe liegenden Städte von feindlichen Fliegern angegriffen wurden, Wellen von Flugzeugen, die über den Zug gleich silbernen Vögeln in der Sonne dahinzogen, als könnten sie nicht jeden Augenblick auch auf uns friedliche Reisende Tod und Verderben durch Bombenabwurf oder Bordwaffenbeschuss speien. Am Spätnachmittag langen wir in Hamm ein. Ich sagte wohlgemeint, nun hätten wir es sozusagen geschafft – da hielt der Zug wieder ein. Nach langer Zeit erfuhren wir, dass Münster schwer angegriffen sei. In Dunkelheit kamen wir in Hiltrup an, wo man alle aussteigen hieß. Die Reisenden, welche als Reiseziel nicht Münster nannten, fuhren mit einem der nächsten Züge nach Hamm zurück. Wir anderen saßen und horchten wo und wie. Es hieß, die Stadt brenne. Schützenhof (Bunker an der Hammerstraße) sei abgesperrt, dort käme keiner durch. Vollalarm ließ uns kurze Zeit den Splittergraben aufsuchen. Dann wieder Ratlosigkeit was tun? Mutti und ich hatten Glück. Ein kleiner Lastwagen nahm uns gegen gute Worte und Zigaretten mit bis zum Kappenberger Damm. Von dort galt es noch ein gutes Stück zu laufen, doch fand sich auch hier ein Soldat, der uns hilfsbereit ein gutes Stück des Weges unsere Koffer trug. Wir sahen, wo wir hinblickten nur Flammen, der Qualm legte sich erstickend auf unseren Atem, unsere Augen tränten. Ein entsetzliches Prasseln und Knacken erfüllte die Luft. Autos kamen langsam vorwärts. Die enge Stiege (wahrscheinlich Lühnstiege),  durch die wir hindurch mussten, brannte von beiden Seiten. Unsere Straße (Körnerstraße), von der einen Seite so furchtbar anzusehen, lag auf der anderen Seite fast ruhig da.

Wir dachten, in unserem Hause sei nichts geschehen (vermutlich Nr. 27). Da wir die Treppe nach oben kamen, wurde unser Irrtum offenbar; unsere Wohnung hatte es getroffen. Brandbomben und ein Phosphorkanister waren durch das Dach geschlagen, mein hübsches, kleines Zimmer ausgebrannt. Drei Frauen unseres Hauses hatten mit Hilfe des Arbeitsdienstes den Brand gelöscht. Bei Hocks ruhten wir erschöpft eine Stunde, dann stiegen wir wieder hinauf. Da der Brand noch immer schwelte, schleppten wir vom Aasee noch mehr Eimer Wasser heran. Ich hielt anschließend bis 6.30 Uhr morgens Brandwache. Gegen 12 waren wir angelangt, nun mochte es halb vier Uhr oder früher sein. Trotzdem ich 24 Stunden bereits fast ohne Schlaf unterwegs war, fiel mit das Aufbleiben nicht schwer. Ich saß auf den Trümmern unseres einst, so geliebten, kleinen Zimmers. Der Himmel glühte im Feuerschein der brennenden Häuser der Nebenstraße. Obwohl das Eckhaus doch noch wenigstens 20 -30 große Schritte von uns entfernt lag, schien es mir durch den Brand fast zum Greifen nahe gerückt. Ich verstand jetzt das unheimliche, gierige Lebendigsein eines Feuers – seine grässliche Furchtbarkeit. (…)

Die nächsten 14 Tage ließen uns kaum zur Besinnung kommen. Macki nahm Bombenurlaub. Wir versandten mehrere rote Eilkarten, die 10 Worte Inhalt zulassen. Dick gedruckt stehen am Anfang die Worte: “Lebenszeichen von … aus… Name, Ortsangabe, Datum werden ausgefüllt.

An die Jungen  (Edward und Norbert, ihre Brüder) sandten wir Telegramme, die polizeilich beglaubigt wurden. Die Beamten fragten nicht viel, wir gaben Schaden C an. Es war aber, wie sich dann herausstellte nur Schaden B, da wir ja nicht restlos alles verloren hatten. Bei letzterem würden Soldaten nicht freigestellt, jetzt ist es inzwischen so geworden, dass wir wenn ein Familienmitglied beim Angriff verunglückt ist, der Wehrmachtsangehörige Urlaub erhält.

Macki und ich beförderten gemeinsam mit dem Hauswirt allen Schutt auf die Straße, da der Phosphor immer wieder aufglimmte. Wir reichten Dachziegel zum Decken der Schäden, wir hingen unsere Fenster ein und aus. Das Aushauen des Gipses mit Hilfe eines Hammers und eines Stemmers war gar nicht leicht. Die Rahmen mussten sehr sauber ausgeputzt werden. Beim neuen Kitten und Einsetzen sahen wir nur zu, schworen aber uns nachher gegenseitig, später einmal in Notlage selbst Fenster glasen zu können bis zur letzten Vollendung. Die Möbel stellten wir in drei Zimmern auf, die uns Hausbewohner z. Verfüg. stellten. Die Betten nahmen wir allein auseinander, setzen sie auch zusammen, Tische, Stühle, Chaiselongue folgten. Für die schweren Möbelteile brauchten wir Hilfe. Da die N.S.V (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) uns keine stellte und ihre Versprechen ungewiss blieben, so wanderten wir zur Schule gegenüber (die alte Antoniusschule), wo die OT. hauste. (Die Organisation Todt -OT-; in der alten Antoniusschule war auch das städtische Bauamt untergerbracht; die Schulkinder waren weitgehend evakuiiert.) wurde im Mai 1938 gegründet und nach ihrem Führer  benannt. Es glückte uns Helfer zu gewinnen. Unsere Zigaretten gingen so zur Neige. Im Haus war wenig Hilfsbereitschaft. Jeder kümmerte sich um seine Wohnung. Der Hauseigentümer zog fast nur Macki und mich zur Hilfe heran. Verpflegung gab vorerst die N.S.V. Brote und Suppen.

In den ersten Tagen hatten wir Mackis Schwester Änne zu Besuch. Sie hat das Pech immer zu den ungelegensten Zeiten zu kommen. Das 1. Mal hatten wir die Grippe, als sie bei uns weilte, diesmal lag die Arbeit deckenhoch. Änne war eine kräftige Hilfe, schade, dass sie nicht länger blieb. Licht gab es nicht mehr, auch das Gas versagte, das Wasser holten wir aus dem Keller. Macki und ich sahen aus wie die Bunken. Meine Trainingshose schmutzig und verbeult, war voller Brandlöcher. Die Schuhe waren die schlechtesten Klepper, die ich gefunden hatte. Ein grünes, schwarz betupftes Kopftuch und eine nicht einwandfrei saubere Polobluse vervollständigten meinen eleganten Aufzug. Macki sah eine Idee manierlicher aus, aber nicht viel.

Nach 14 Tagen erschien Norbert und der Jubel war groß. Er hatte Speck, Schinken und Butter aus Dänemark mitgebracht. Wir fraßen wie die Wölfe. (…)

Am 29.10., glaube ich, war es als der zweite Angriff erfolgte. Norbert war nach Süddeutschland zu seiner Doris gereist. Macki wollte nach Dortmund fahren. Der Alarm dauerte ohne Störungen schon länger an. Ich saß auf dem Hof, denn die Sonne schien, und bemühte mich ein Silbenrätsel zu lösen. Als wir ein Brummen vernahmen, gingen wir langsam in den Luftschutzkeller. Rieskamps kamen aus ihrer Wohnung. Frau Rieskamp sagte heftig keuchend, denn sie leidet an Atembeschwerden: ich glaube, heute gibt es nichts.“ Fast im gleichen Augenblick waren sie über uns. Es ist schwer das Grauen zu beschreiben. Wir alle lagen am Boden und beteten. Die Luft war erfüllt von einem furchtbaren Sausen und der zusammen-geballten Kraft, die durch das Fallen der Bombe ausgelöst wurde. Das Haus bebte in seinen Mauern, ein ohrenbetäubendes Krachen und unheimliches Brechen, die Explosion der Bomben – es war als stürze ein Planet vom Himmel wie es das jüngste Gericht voraussagt. Sekunden wurden zu Ewigkeiten, in denen wir in der Todesangst lebten, dass die Mauern über uns zusammenstürzen würden. Nach der ersten Welle waren wir ganz verstört, aber noch gefasst, die zweite Welle ließ uns denken, wir seien vielleicht verschüttet. Unser Durchgang wurde freigelegt. Die Menschen aus dem Nachbarhaus kamen zu uns. Die 3. Welle ließ ein wenig auf sich warten, wir hatten schon gedacht, es sei vorüber. Irmgard schrie: “Mutter, hilf mir doch.“ Bete, lieber, “ antwortete ihr der Nachbar. “Jetzt lernen Leute beten, die es sonst nicht können.“ sagte ihr Vater. “Mann, sei doch ruhig.“ stöhnte seine Frau und ihr Mann stand aufrecht.“ Sie kommen wieder, “sagte ich und weinte. “Mund aufhalten.“ sagte R. Ich hielt meine Mutter umschlungen. Nie hatte ich gewusst wie sehr ich am Leben hing, und dass ich nicht sterben wollte, noch nicht. Das Beten, die Sammlung der Gedanken auf das Jenseits, gab mir ungeahnten Halt. Nach dem Angriff weinten wir fast alle. Frau Lizken schluchzte laut, sie wusste nicht, wo sich ihr Mann befand. Wir wagten langsam vor die Tür zu treten. Zwei Häuser direkt neben uns im Block waren getroffen. Macki eilte uns entgegen. Sie hatte nicht fahren können, war nach Haus´ geeilt und unterwegs vom Alarm überrascht. Sie hatte im Splittergraben gesessen, neben und vor ihm hatten die Bomben Trichter in die Erde von unheimlichen Ausmaßen gebohrt.

Zugang zu einem Splittergraben an der Promenade

Ein Splittergraben ist ein sehr ungenügender Schutz, ein Treffer auf ihn und alle sind Kinder des Todes. Wie hätten wir dann wissen sollen, wo Macki weilt, da wir sie abgefahren glaubten. Wie glücklich und dankbar wir waren, uns gesund umarmen zu können. Meine Mutter drückte mich in der Wohnung einmal an sich: “Wie reich bin ich doch, Euch zu besitzen.“ sagte sie froh.

Macki und ich fuhren die Stadt. Freilich müssen wir streckenweise unsere Räder führen, dort, wo Trichter waren, Steine und Scherben lagen. In der Stadt brannte es. Münster zu beschreiben, wie es vor und nach den Angriffen aussah, ist fast nutzlos, vielleicht ein andermal, die Stadt der Ruinen, trostlos.

Das Gauhaus stand noch. Beim ersten Angriff waren 7-8 Löschzüge für dies wertvolle! Gebäude vorhanden gewesen, während die umliegenden Häuser abbrannten – ohne eine Spritze. Wir holten unseren Bombenkaffee“ 50 gr. für jeden. Es gab auch 35 l Alkohol. Dazu “Zitterkärtchen“ mit 950 gr. Brot, 60 gr. Butter, 200 gr. Fleisch. Licht hatte ja bereits versagt und wir uns alle 2 Tage (so vorhanden) 1 Kerze von der N.S.V. geholt. Nun gab es auch Wasser und Gas nicht mehr.

Norbert kam früher wieder, als gedacht. Er stellte unser Öfchen aus dem sonst verbrannten Raum wieder auf. Ein Backstein ersetzte den verlorenen linken Fuß. Wir mussten unseren ganzen Holzvorrat verbrauchen, um etwa zum Kochen zu bringen. Teilweise rissen wir einfach das halbverkohlte Holz von den Türumrandungen ab. Die Türen waren sämtlich nicht mehr vorhanden. In diesen Tagen aßen wir sehr gut. Wir plünderten den Topf mit eingelegten Eiern vollständig.

An dem Tag, da Norbert abreisen wollte – es war der Donnerstag – erfolgte der 3. Angriff. Im Haus war ich durch Zufall mit Norbert alleine. Aus dem Nachbarhaus kamen die Leute wieder zu uns. Ich bewunderte die Frau sehr, die guter Hoffnung war. Sie war, trotzdem ihnen doch das letzte Mal das Haus zusammenfiel gefasst und ich möchte fast sagen, von einer heiteren Ruhe. Leid tat mir nur ihr kleiner, dreijähriger Junge, dessen Herzchen wie ein Vogel flatterte. Norbert nahm ihn auf den Schoss. Er ist so gut und lieb zu Kindern. “Sei ruhig, Kleiner“ sagte er sehr ruhig. “Hab´ keine Angst, Du bist ja bei Onkel Soldat nicht wahr, da geschieht Dir nichts. Und wir sind ja fast schon ein Mann und sehr tapfer.“ Und wieder kamen die Wellen. Der Kleine schlug die Händchen vors Gesicht und ging gleich zu Boden. Diesmal schlugen die Bomben nicht in unmittelbarer Nähe ein. Trotzdem war es schrecklich. – Infolge des Angriffs brauchte Norbert erst anderen Tages fahren. Vom Bahnhof Münster gingen keine Züge ab.  Ein Omnibus beförderte die Reisenden nach Handorf und Warendorf, von wo aus die Züge weiter verkehrten. Der Abschied war wie immer sehr schwer. – Norbert und ich lieben uns sehr.

Wir packten jetzt um Münster zu verlassen unsere Koffer, aber Alarme störten uns ständig. Nun eilten wir gleich den anderen schon bei Voralarm, dem meistens Vollalarm folgte, zum Antoniusbunker, der etwa 12 Minuten von uns entfernt  liegt.

Antoniusbunker bei Alarm

(Der so genannte Antoniusbunker steht noch heute auf dem Schulplatz der Marienschule an der von-Kluck-Straße) Er besitzt fünf Stockwerke. Ein großes Gedränge herrscht. Wir fanden fast immer erst im 4. Stock Platz. Bei Gefahr wurden die Luftklappen geschlossen, dann war die Luft zum Ersticken in dem von Menschen erfüllten Raum.

Antoniusbunker heute

Wir saßen auf langen Bänken, nur ein schmaler Gang ließ die Mitte frei. Es ist nur wenig Gepäck, keine großen Koffer gestattet. Viele schlafen im Bunker. Die Klappstühlchen besitzen, nehmen dieselben zur Vorsicht mit. Macki erzählt immer aus dem Bahnhofsbunker. Wenn dieser durch die ankommenden Reisenden sich überfüllt, ruft der Aufseher: “Höckers rauf, alle runter von die Höckers.“ Worauf scheinheilig die “Höckersbesitzer“ vor ihm aufstehen, ihre Stühlchen hinter sich halten, um sich, sobald er sich entfernt hat, wieder seelenruhig niederzusetzen. Den roten Wasserwagen in der nächsten Straße nicht verpassen, war sehr wichtig. Mit allen möglichen Gefäßen stellten wir uns in einer Schlange an. Zum Trinken musste das Wasser abgekocht werden. In den ersten Tagen hatte es kein Wasser gegeben und wir mit dem Vorrat aus dem Keller vorlieb nehmen müssen. Wir hatten den Eindruck nie mehr sauber zu werden.

Am Sonntag fuhren Macki und ich nach Handorf. Wir hatten unser Gepäck auf einen Bollerwagen geladen und denselben hinter unseren Rädern befestigt. Es war gar nicht so leicht zu fahren. Zur gleichen Zeit mussten wir  anrücken, damit sich der Wagen in Bewegung setzte. Auch das Fahren musste im Gleichmaß geschehen. Die Leute die uns so sahen, lachten, die Soldaten riefen uns Scherzworte nach. Macki und ich freuten uns über unser Patent. Zwei Tage später verließen Mutti und ich Münster. Wir fuhren nicht wie sonst über Hamm, Soest, da diese Strecke zu stark zerstört und gefährdet war, sondern über Lippstadt – Warendorf. Gegen 10 Uhr Morgens fuhr unser Zug, übrigens wieder vom Haupt-Bahnhof, um halb acht Uhr Abends langten wir in Paderborn an.

(...)

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