Vercors

geb.1902 - gest.1991 (Paris)
†

Eigentlich hieß er Jean Marcel Bruller und zeichnete Karikaturen. Während der deutschen Besatzung Frankreichs schloss er sich dem Widerstand (Résistance) an, wählte das Pseudonym Vercors und versuchte, durch  Kurzgeschichten und Romane den Widerstand der französischen Bevölkerung wachzuhalten. Es galt zu verhindern, dass sie sich in ihr Schicksal ergab.

(Le Vercors ist ein Gebirgszug in den französischen Alpen, der wegen seinen Unzugänglichkeit das Zentrum der Résistance wurd

An jenem Tage
(Übersetzung: Bettina Knust)

 

Der kleine Junge legte seine kleine Hand wie selbstverständlich in die seines Vaters. Obwohl  es eigentlich schon lange her war, dachte er. Sie verließen den Garten. Mama hatte einen Topf mit Geranien ans Küchenfenster gestellt, das tat sie immer, wenn Papa fortging. Es war etwas seltsam.

Das Wetter war schön, - es gab ein paar Wolken, aber sie waren formlos und ausgefranst, er hatte keine Lust ihnen nachzuschauen. Deshalb sah der kleine Junge auf die Spitzen seiner kleinen Schuhe, die vor ihm den Staub der Straße aufwirbelten. Papa sagte nichts. Gewöhnlich wurde er ärgerlich, wenn er dieses Geräusch hörte. Er sagte: „Heb die Füße!“ und der kleine Junge hob für eine kurze Zeit die Füße, aber dann fing er heimlich wieder an zu schlurfen, mit Absicht, immer ein klein wenig, er wusste selbst nicht warum. Aber diesmal sagte Papa nichts, und der kleine Junge hörte mit dem Schlurfen auf. Er schaute weiterhin zu Boden: es machte ihn unruhig, dass Papa nichts sagte.

 

Die Straße verlief  jetzt unter Bäumen. Die meisten von ihnen hatten noch kein Laub. Einige hatten einen leichten grünen Schimmer von kleinen Blättern, es war ein reines und sehr helles Grün. Man fragte sich, ob die Blättchen nicht sogar süß sein könnten.

Etwas weiter knickte die Straße ab, man würde die Große Aussicht vor sich haben, den großen Felsen des Grésivaudan, der ganz steil abfiel, und wo  unten ganz kleine Bäume und kleine Häuser zu sehen waren, die Straßen wie Kratzspuren aussahen und der Fluss Isère sich in ganz feinem Nebel schlängelte. Sie würden stehen bleiben und schauen. Papa würde sagen: „Sieh mal, der kleine Zug“ oder: „Siehst du den kleinen schwarzen Punkt, der sich auf der Straße bewegt? Das ist ein Auto. Da sitzen Leute drin. Vier Personen, eine Dame mit  einem kleinen Hund und ein Mann mit einem langen Bart.“ Der kleine Junge würde sagen: „Wieso siehst du das?“ – „Ich habe mir eine Brille ins linke Auge einarbeiten lassen, das weißt du doch“, würde Papa sagen und das Auge aufreißen, „schau, siehst du sie nicht?“ Und unsicher ob das nun stimmte oder nicht, würde er antworten: „Hm, so richtig nicht...“ Dann würde Papa vielleicht anfangen zu lachen und ihn hoch über den Kopf auf seine Schultern heben.

 Aber Papa schaute zerstreut auf die Große Aussicht und blieb nicht einmal stehen. Er hielt die kleine Hand seines kleinen Jungen fest in der Seinen. So fest, dass es unmöglich war, sie loszulassen, als sie etwas weiter an der Stelle vorbei kamen, wo der Rand des Straßengrabens eine ganz unregelmäßige Höhe hatte, wo er gern auf die kleine Anhöhe  geklettert wäre um zu rufen: „Guck mal, Papa, ich werde immer größer, guck, ich bin größer als du...und jetzt werde ich immer kleiner...“.

Es stimmte ihn etwas traurig, denn er hing sehr an diesem Ritual. Aber dies war wohl ein Spaziergang, der ganz anders war als die früheren.

Ein Stück weiter erreichten sie  den Felsen mit dem rechteckigen Stein. Gewöhnlich setzten sie sich hin. Er fragte sich, ob sie sich auch diesmal hinsetzen würden. Der Felsen mit dem rechteckigen Stein kam näher und der kleine Junge fragte sich, ob sie sich hinsetzen würden. Er hatte etwas Angst, dass sie es nicht tun würden. Ein klein wenig Angst, wirklich richtige Angst. Er zog vorsichtig an der Hand des Vaters, als sie ganz nahe dran waren.

Zum Glück ließ Papa sich mitziehen und sie setzten sich hin. Sie sagten nichts, aber es war oft so, dass Papa, wenn sie auf diesem Stein saßen, nichts sagte. Höchstens manchmal (wenn es sehr heiß war): „Oh, tut das gut“. Heute war es nicht sehr heiß. Es war nur ungewöhnlich, dass Papa die ganze Zeit seine kleine Hand nicht losließ. Eigentlich ließ Papa hier seine Hand los, und der kleine Junge, der nicht gern lange still sitzen blieb, kletterte unter den Bäumen umher und suchte Pinienzapfen. Manchmal auch wilde Erdbeeren, aber Erdbeeren gab es nicht oft.

 Sie blieben sitzen und der kleine Junge verhielt sich ganz still. Er bemühte sich sogar, nicht mit den Beinen zu baumeln. Warum? Keine Ahnung, wohl weil Papa seine Hand so festhielt. Er konnte, nein, er wollte nicht einmal an die Pinienzapfen und die Erdbeeren denken. Außerdem gab es bestimmt keine Erdbeeren, und die Pinienzapfen waren eigentlich gar nicht so interessant.

Aber gerade weil er so still saß, bekam er wieder Angst. Nicht viel, ein bisschen, ein ganz klein wenig nur, so als ob man im Bett liegt und im Dunklen etwas knarren hört, aber gleichzeitig hört man Papa und Mama in ihrem Schlafzimmer reden. Er war froh, dass Papa seine Hand hielt, weil man dann weniger Angst hatte, andererseits hatte er doch gerade deshalb Angst, weil Papa seine Hand hielt.....ja, zum ersten Mal auf so einem Spaziergang wäre er lieber wieder nach Hause gegangen. Als hätte sein Vater ihn gehört, stand er auf, der kleine Junge stand auch auf und überlegte, ob sie wohl nach Hause gehen würden oder ob sie wie sonst bis zu der kleinen Brücke über die Grisonne gehen würden. Er wusste selbst nicht, was ihm lieber gewesen wäre. Sie gingen in Richtung Brücke, ach, na gut.

Von der Brücke schauten sie in den Strom (Papa nannte ihn Rinnsal), wie er über die Steine plätscherte, die aussahen wie große Dragée-Bonbons. Einmal hatte Papa ihm ein Säckchen voller kleiner Steine mitgebracht und das waren alles Bonbons. Das war schon lange her, bestimmt vor Weihnachten, er erinnerte sich nicht genau. Jedenfalls hatte es seitdem keine Bonbons mehr gegeben, und er schaute unheimlich gern auf die Steine im Strom, seine Augen freuten sich wie seine Zunge an den Bonbons.

 Papa sagte:
„Seit Urzeiten fließt dieses Wasser...“

Der kleine Junge fand das lustig. Natürlich, es floss  schon lange. Es floss schon, als sie zum ersten Mal hierher gekommen waren. Und außerdem hätte man ja keine Brücke gebaut, wenn das Wasser nicht da gewesen wäre.

„Und wenn dein eigener kleiner Junge einen langen weißen Bart hat, sagte Papa. dann wird es immer noch fließen. Es wird nie aufhören zu fließen“, sagte Papa und schaute ins Wasser.
„Das ist beruhigend“, fügte er noch hinzu, aber man merkte, dass er es nicht zu seinem kleinen Jungen sagte, sondern zu sich selbst.

Sie blieben sehr lange und schauten ins Wasser, dann endlich wandten sie sich ab. Sie nahmen den Igelweg, der kleine Junge nannte ihn so, seitdem sie dort einmal einen Igel gefunden hatten. Er war  etwas steil. Sie kamen am Holzbrunnen vorbei,  man hatte dort in ein rundes Stück Eichenholz eine Mulde gegraben, in die jetzt ein dünner Wasserstrahl fiel, so klar, so klingend wie reiner Kristall, dass man schon vom Zuschauen Durst bekam. Aber es war nicht sehr heiß. Oben auf der Anhöhe machte der Pfad eine kleine Biegung und führte dahinter wieder abwärts. Von ganz oben würde man das Haus sehen können. Man sah es sehr gut. Am besten sah man das Küchenfenster und den Topf mit den Geranien, die grün und orange in der Sonne leuchteten, und dahinter war Mama, aber man sah sie nicht.

Papa schien müde zu sein, weil er sich hinsetzte, bevor sie oben ankamen. Sonst setzte er sich nie auf diesen Baumstumpf. Er setzte sich und zog seinen kleinen Jungen auf seine Knie. Er sagte:
„Bist du müde?“
„Nein“, sagte der kleine Junge. Papa lächelte, aber er verzog nur den einen Mundwinkel. Er streichelte ihm die  Haare und die Wange. Er zog die Luft tief ein und sagte:
"Du musst jetzt sehr lieb zu Mama sein, und der kleine Junge nickte, weil ihm nichts anderes dazu einfiel.
„Ein lieber kleiner Junge“, fügte Papa hinzu, und er stand auf. Er fasste seinen kleinen Jungen unter die Arme,  hob ihn auf die gleiche Höhe seines Gesichtes und küsste ihn auf beide Wangen. Dann stellte er ihn wieder auf den Boden und sagte mit fester Stimme:
„Gehen wir“.

Sie setzten ihren Spaziergang fort, erreichten die Kuppe und konnten die Gartenmauer sehen, die beiden Tannen, das Haus, das Küchenfenster.
Der Topf mit den Geranien...
Er war fort.

Der kleine Junge bemerkte sofort, dass der Topf mit den Geranien nicht mehr am Küchenfenster stand. Papa bestimmt ebenso. Denn er bliebe stehen und drückte die kleine Hand in der Seinen heftiger als zuvor, und sagte:

„Es ist so weit. ich habe es geahnt.“
Unbeweglich stand er, starrte und starrte und sagte immer wieder:
„Gütiger Gott, wie konnte ich nur...ich wusste es doch, ich hab es doch gewusst...“

Der kleine Junge hätte gern gefragt, was er denn gewusst hätte, aber er konnte nicht, weil Papa seine Hand so fest drückte. Und ihm wurde langsam schlecht, so wie damals, als er zuviel Maronenmus gegessen hatte.

Dann sagte Papa: „Komm!“, und anstatt den Hügel hinab zu gehen, kehrten sie um und gingen sehr schnell. „Wo gehen wir hin, Papa, wo gehen wir denn hin?“, fragte der kleine Junge, und ihm war übel wie damals bei dem Maronenmus.
„Zu Madame Bufferand“, sagte Papa. Seine Stimme klang ganz komisch, wie einmal die vom Briefträger, als ein Auto ihn angefahren hatte und er vom Fahrrad gestürzt war.

„Sie ist sehr nett“, sagte Papa, „du kennst sie doch, du schläfst heute bei ihr.“

Der kleine Junge hätte gern gefragt warum, aber Papa drückte seine Hand zu fest, er konnte einfach nichts sagen. Wurde ihm deshalb immer mehr übel? Am liebsten hätte er sich auf die Erde gelegt, wie damals nach dem Maronenmus, aber Papa drückte seine Hand so fest, und sie gingen viel zu schnell, und jetzt war ihm nicht nur schlecht, ihm tat der Bauch weh und die Beine auch, aber es wäre doch albern gewesen zu sagen, ihm sei übel in den Beinen.

 Als Madame Bufferand, die sehr alt war und ein ganz faltiges Gesicht hatte, sie alle beide kommen sah, faltete sie die Hände über der Brust und sagte: „Gütiger Gott...!“
Papa sagte: „Ja, so ist es“, und sie gingen ins Haus. Und als sie endlich in dem kleinen Wohnzimmer waren, wo es nach Zimt roch, hielt der kleine Junge es nicht mehr aus und legte sich auf den Boden.

Er achtete nicht mehr genau auf das, was sie sagten. Es war zu dunkel um zuzuhören. Madame Bufferand redete und redete, mit einer leisen brüchigen Stimme, er nahm sie wahr wie im Traum.

Papa hob den kleinen Jungen auf und legte ihn auf ein Bett. Er streichelte lange seine Haare, schloss ihn fest und lange in seine Arme, länger und fester als sonst am Abend. Und dann gab Madame Bufferrand ihm einen Koffer, er umarmte Madame Bufferand und ging hinaus. Und Madame Bufferand kam und kümmerte sich um den kleinen Jungen, sie legte ihm ein feuchtes Taschentuch auf die Stirn und machte ihm Kamillentee. Er sah, dass sie weinte, ab und zu wischte sie die Tränen weg, aber man sah sie trotzdem. 

***

Am nächsten Morgen spielte er gerade mit Bauklötzen als er Madame Bufferand im Esszimmer reden hörte. Die Bauklötze musste man so zusammenlegen, dass sie einen Mann mit Halskrause und Federhut ergaben. Es fehlten nur noch ein Auge und der Hut. Er stand auf und legte sein Ohr gegen das Schlüsselloch, er konnte es  gerade erreichen, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte. Er hörte nicht sehr gut, weil die Frauen nicht laut sprachen, sie flüsterten. Madame Bufferand sprach vom Bahnhof. „Ja“, sagte sie, „ja, er auch: er suchte seine Frau in einem Abteil, da haben sie ihn erkannt.“

„Gütiger Gott“, sagte die andere Frau, „er konnte es nicht lassen...!“
„Nein“, sagte Madame Bufferand, „er konnte einfach nicht, wer hätte das schon gekonnt? Er rief die ganze Zeit: ‚Ich bin schuld, ich bin schuld!’“
Und dann sprachen sie über ihn selbst, über den kleinen Jungen. Zum Glück, sagte die Frau, zum Glück gab es Madame Bufferand. Madame Bufferand antwortete etwas, aber ihr Flüstern wurde ganz undeutlich und er konnte sie nicht verstehen.

Der kleine Junge kehrte zu seinen Bauklötzen zurück. Er setzte sich auf den Boden und suchte den Klotz mit dem Auge. Er weinte lautlos, die Tränen kamen einfach, er konnte sie nicht zurückhalten. Er fand den Bauklotz mit dem Auge und setzte ihn an den richtigen Platz. Das mit dem Hut war leichter. Er versuchte die Nase hochzuziehen ohne ein Geräusch zu machen, eine Träne rollte in seinen Mundwinkel, er fing sie mit der Zunge auf, sie war ganz salzig. Die Feder fiel ihm schwer, man wusste nicht, wann sie richtig saß, so oder anders herum? Eine Träne fiel auf die Feder, glitt darüber, wurde langsamer und blieb daran hängen wie ein Tautropfen.

(französisches Original: Vercors, Le Silence de la mer et autres récits, Livre de Poche 1994)