André Glucksmann
1937 - 2015

Das schwarze Licht

geschrieben anlässlich der Bombardierung der Stadt Dubrovnik  1991

 

Božidar Ɖukić, Street in the Old Town, 6 December, 1991

Seitdem, wie schon zuvor, interessiere ich mich für die moderne Stadt, denn ich bin Philosoph und die moderne Stadt stellt die Philosophie vor zahlreiche Probleme. Andererseits ist mir der Krieg nicht wirklich fremd, ich empfinde ihn nicht als völlig außergewöhnlich. Ich glaube, hier liegt ein wesentliches Problem, das die Menschheit bereits seit ihren Anfängen kennt, seitdem der Mensch die Steinaxt erfand und sie in das Haupt seines Nachbarn schlug. In der Domestizierung dieses Triebes und des Phänomens Krieg stellt sich  die entscheidende Frage nach der Zivilisation und der Philosophie.

Meiner Meinung nach gibt es zwei Arten von Denkern: die einen sind Propheten des Glücks, die uns erklären, wie wir leben sollen, und zwar gut leben, wie jeder vollständig gesund wird und wie alle zusammen das Paradies erreichen. Ich glaube,  die Mehrheit der Denker und der Politiker sind Propheten des Glücks.

Damir Vilićić, Old City Harbour, 6 December, 1991

Doch  es gibt auch jene Denker, die eher Propheten des Unheils  sind, die zu erkennen versuchen, was falsch läuft, um es dann zu verhindern. Ich glaube, dass sie eine Minderheit sind, die es schon seit den Zeiten der alten Griechen gibt (Kalkas, Teresias, Kassandra – alle sind Propheten des Unheils). Auch in der Bibel gibt es viele Propheten, aber meistens handelt es sich um Propheten, die schlimme Dinge ankündigen, Risiken, Gefahren, Unheil, und diese Art Propheten ist zwar zahlenmäßig gering, aber von großer Bedeutung. Im 20. Jahrhundert gab es bei weitem zu viele Propheten des Glücks. Im 20. Jahrhundert haben wir, wie Solschenizyn sagt, alle Verbrechen der europäischen Geschichte im Namen des Guten begangen. Wegen einer guten Sache hat man Konzentrationslager eingerichtet, zum Wohle der Rasse, der Klasse, zum Wohle der Nation, zum Wohle der Menschheit, zum Wohle des Glaubens, und dabei es gab zu weinige Propheten des Unheils. Der größte dieser Propheten war Solschenizyn, der nicht gesagt hat, man muss diesen oder jenen Gott lieben, der vielmehr sagte, man muss dem Bösen ins Angesicht schauen, man muss den Gulag wahrnehmen und versuchen zu verstehen, warum es ihn gibt, warum wir ihn zugelassen haben, und warum wir dabei mitgemacht haben. Solschenizyn sagt: „Ich verstehe, was der Gulag ist, weil ich in mich hineinschaue. In mir selbst finde ich den jungen Mann wieder, der ich einst war, ein kleiner Stalinist. Das heißt, in mir entdecke ich die Wurzel des Gulags, und die Erfahrung eigener aggressiver und autoritärer Tendenzen lehrt mich den Gulag zu verstehen.“ Das genau ist die Tradition des Westens, die Tradition eines Sokrates ("erkenne dich selbst") und die eines Solschenizyn, der letztlich dasselbe sagt: man muss sich dem Schmerz, dem Leiden, dem Bösen, der Pestgefahr in  der Politik, der Pestgefahr in der Gesellschaft stellen, um zu versuchen, die Wege zur Hölle zu versperren und zu widerstehen. Deshalb ist der wahre denkende Zeuge nicht jener, der das Gute predigt, sondern der, der dem Bösen ins Gesicht sieht. Darin unterscheidet sich der Intellektuelle nicht vom unbelasteten Zeugen, vom einfachen Bürger.


Den Begriff des Humanismus hat man auf verschiedenste Weise erklärt. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts betrachteten sich viele als Humanisten, weil sie glaubten, wir, die aufgeklärten  Europäer, seien die besten Menschen der Welt, und uns sei nichts Menschliches fremd. Diese  optimistische Vorstellung von Humanismus hat viel Unheil gebracht, weil sie zwei Fehler hatte: einerseits sah dieser Humanismus das Böse in den anderen nicht, und er sah deren Aggression nicht voraus. (In Frankreich beispielsweise sang man „Alles ist gut, Madame la Marquise“, als Hitler vor den Toren stand). Das war der erste Irrtum: man sah das Böse der anderen nicht. 

Damir Fabijanić, St. Joseph street, 6 December 1991

Der zweite Irrtum lag darin, dass wir das Böse an sich nicht erkannten, das Böse in uns. Es gab zwei Kriege im Namen des Guten. Das Ungewöhnliche war nicht die Existenz des Krieges, denn ihn gab es immer schon,  sondern der totale, der bedingungslose Krieg, der Krieg, der die völlige Unterwerfung des Gegners forderte. Die großen Kriege waren etwas Neues im 20. Jahrhundert, sie sind groß, weil sie im Namen hoher ethischer und humanistischer Grundsätze geführt werden, den Revolutionen vergleichbar. Das bedeutet, dass Europa die Gefahren des Humanismus gründlich kennengelernt hat. Heute muss  der Humanismus das Tragische erkennen, er darf nicht das Gute predigen, sondern er muss sich dem Bösen entgegenstellen. Solschenizyn beispielsweise sagt niemals, „es ist falsch, nicht an meinen Gott oder an mein Ideal zu glauben“, er sagt hingegen immer, „es ist falsch, das Böse nicht zu sehen sowie unsere Teilhabe am Bösen. Wir müssen aufhören, Beifall zu klatschen, wenn wir nicht einverstanden sind, und wir müssen versuchen, unseren Fähigkeiten entsprechend eigenständige Gedanken zu entwickeln, denn angesichts des Bösen ist jeder allein".

Damir Vilićić, Stradun, 6 December 1991

Damir Vilićić, Stradun, 6 December 1991

Ich meine, Humanismus bedeutet heutzutage, dass all jene solidarisch sind, die wissen, dass man im Namen des Guten betrügen kann, dass man sich aber angesichts des Bösen vereint. Diese Solidarität nennt Patoshcka, der philosophische Lehrer von Vaclav Havel, die Solidarität der Erschütterten. Wir sind solidarisch, weil wir gemeinsam die Erfahrung des Bösen gemacht haben. Ein Konzentrationslager ist ein Konzentrationslager, sei es national-sozialistisch, kommunistisch oder islamisch. Wenn die Polizei foltert, dann foltert sie, sei es im Namen der Serben oder der Kroaten. Eine Diktatur ist eine Diktatur, sei sie rechts oder links.  Hungersnot bleibt Hungersnot, ganz gleich ob sie Asien oder Afrika heimsucht, ob Muslime hungern oder Katholiken. Leiden und Unglück betreffen die ganze Welt. Dadurch wird ein weltumspannender Humanismus möglich, dessen Licht nicht vom Guten herrührt, denn es gibt,meines Wissens nichts, was universal als das Gute gilt. Man muss vielmehr sein Licht durch das Böse finden, ein schwarzes Licht, das sehr hell leuchtet.


(aus: Dubrovnik ar War, 1991; aus dem Französischen übersetzt von Bettina Knust:  gekürzt)