Boualem Sansal: Ich war in Jerusalem

Liebe Brüder, Liebe Freunde aus Algerien, Palästina, Israel und anderswoher,

siehe unten: Kommentar
von Jean Pierre Lledo,französischer Cineast und Autor algerischer Herkunft

Ich schreibe euch diese paar Zeilen, um euch zu sagen, wie es um mich steht. Vielleicht macht ihr euch Sorgen um mich. Ihr wisst ja, dass ich ein einfacher Mann bin, ein Schriftsteller, der euch immer nur gern Geschichten erzählt hat, „Geschichten, die man nicht schreiben soll“, wie mein Freund Jean-Pierre Lledo es ausdrückte; aber gibt es Leute, die beschlossen haben, sich in unsere Verbundenheit und unsere Freundschaft einzumischen, und sie  zu tun so, als sei ich in euren Augen eine Schande.

Man glaubt es kaum, aber ihre Anklage lautet auf nichts weniger als Hochverrat an der arabischen Nation und der muslimischen Welt insgesamt. Was soll das heißen, es gibt ja nicht einmal einen Prozess. Die Hamas-Leute, gefährlich und berechnend wie sie sind, haben das bedauernswerte Volk von Gaza als Geisel genommen und erpressen es tagtäglich schon seit Jahren, wie in einem finsterem Reservat, das durch die israelische Blockade am Leben erhalten wird. Und jetzt wollen sie uns Vorschriften machen, – uns, die wir mit allen Mitteln um die Freiheit kämpfen – was wir zu denken, zu sagen und zu tun haben. Es gibt noch andere, die bleiben anonym, bösartige, verbitterte, unzugängliche Individuen, die ihren Hass so viel sie können über das Internet verbreiten. Durch deren rachsüchtige Posts und Hassbotschaften habt ihr von meiner Reise erfahren, und hier bin ich und bestätige es, damit sich eure Köpfe beruhigen und damit zwischen uns alles klar ist: Ja, ich bin mach Israel gefahren.

Was für eine Reise, mein Vorväter, und was für ein Empfang! Verzeiht mir, dass ich euch vorher nichts davon gesagt habe, Diskretion war angesagt, Israel ist keine Touristenziel für Araber, obwohl… Es gab durchaus schon vor mir höchst wichtige Persönlichkeiten, die klammheimlich in das Land wo Milch und Honig fließt gefahren sind, sogar unter falschem Namen oder mit einem geliehenen Pass, wie etwa die tapfere Madame Khalida Toumi, seinerzeit leidenschaftliche Gegnerin der fundamentalistischen Diktatur in Algier, heute glanzvolle Kulturministerin und  der führende Kopf, wenn es gilt, Jagd auf Verräter, Apostaten und andere Kollaborateure zu machen. Es ist in erster Linie ihr zu verdanken, dass die Algerier in ihrem schönen Land täglich so viel Ärger und Wut empfinden. Ihre Grenzpolizei hätte mich niemals ausreisen lassen, wenn ich mich bei der Kontrolle präsentiert hätte, ein Flugticket Algier-Tel Aviv ohne Zwischenlandung in der einen Hand und den schönen grünen Pass mit dem frischen israelischen Visastempel in der anderen. Ob die mich vielleicht gleich vergast hätten? Ich hab’s anders gemacht, ich war schlau, ich bin über Frankreich ausgereist, bin dann in der Rue Rabelais in Paris kurz aus dem Taxi gesprungen, und habe mir ein israelisches Flughafenvisum verschafft, dank dessen ich jetzt im Besitz von tausend und einer Geschichte bin, die man nicht erzählen soll, und die ich, das verspreche ich euch, in einem meiner nächsten Bücher in allen Einzelheiten schildern werde, wenn Gott mich so lange leben lässt.

Ich werde euch von Israel und den Israelis erzählen, wie sie sind, wenn man sie mit eigenen Augen sieht, in ihrer Heimat, ohne Mittelsmänner, ohne Doktrin, und wenn man sicher sein kann, dass man bei der Rückkehr keinem Wahrhaftigkeitstest unterzogen wird. Sicher ist, dass es auf der Welt kein anderes Land und kein anderes Volk gibt wie sie. Mich beruhigt und fasziniert es zu wissen, dass jeder von uns einzigartig ist. Zwar wirkt der Einzigartige verstörend, aber wir sollten ihn in Ehren halten, denn seinen Verlust könnten wir nicht wieder gutmachen.

Ich werde von Jerusalem erzählen, von Al-Quds. Ich hatte ein unbestimmtes Gefühl, dass dieser Ort nicht wirklich eine Stadt ist, und dass seine Einwohner nicht wirklich Einwohner sind, ein Hauch von Unwirklichem schwebt über ihr, und man spürt, und man spürt hier ganz deutlich, dass es auf unserer Erde etwas gibt, das wir nicht erfassen können. In einer mehrere Tausend Jahre alten Stadt soll man gar nicht erst versuchen zu verstehen, über allem liegt Traum und Zauber, man begegnet den größten Propheten, den edelsten Königen, man stellt ihnen eine Frage, man spricht mit ihnen wie mit einem Bekannten aus dem Viertel, mit Abraham, David, Salomon, Maria, Jesus, Mohammed als letztem in der Reihe, und Saladin, dem edlen Ritter (der Friede sei auf ihnen); ohne Übergang gelangt man von einem Geheimnis zum nächsten, man schreitet durch Jahrtausende und trifft auf Widersprüche, immer unter einem einheitlich weißen Himmel und gleißendem Sonnenlicht. Die Neuerungen der Gegenwart erscheinen so vergänglich, dass man sie schnell vergisst. Wenn es auf Erden eine Himmelsreise gibt, dann nimmt sie hier ihren Anfang. Hier ist doch Christus in den Himmel aufgefahren, hier trat Mohameds seine Himmelsfahrt auf dem wundersamen Reittier Buraq an, geführt vom Erzengel Gabriel.

Man fragt sich, welche Kraft dies alles zusammenhält, in einer überdies hochmodernen Stadt, denn Jerusalem ist tatsächlich auch eine Hauptstadt mit sauberen Straßen, gepflasterten Bürgersteigen, solide gemauerten Häusern, schnellen Autos, attraktiven Hotels und Restaurants, wohlbeschnittenen Bäumen und vielen Touristen aus aller Herren Länder - nur nicht aus den arabischen Ländern; auf der ganzen Welt sind sie die einzigen, die den Ort ihres Ursprungs nicht besuchen oder besuchen können, jene magischen Stätten, an denen ihre Religionen entstanden sind, das Christentum ebenso wie der Islam.

So haben letztlich arabische und jüdische Israelis das Glück, dies alles jeden Tag zu sehen, jedes Jahr, von Morgen bis Abend, ohne des Mysteriums je müde zu werden. Man kann die Zahl der Touristen in diesem Labyrinth nicht benennen, sie sind zu zahlreich, zahlreicher als die Einwohner. Fast alle benehmen sich wie Pilger, die von weither kommen. Sie gehen in geschlossenen Gruppen und treffen aufeinander ohne sich zu mischen, Engländer, Inder, Japaner, Chinesen, Franzosen, Holländer, Äthiopier, Brasilianer und viele mehr; sie werden von unermüdlichen Führern geleitet, die, wahrscheinlich unter Eid, Tag für Tag in allen Sprachen der Schöpfung den staunenden Massen die Jahrhunderte alte Legende darbieten.

Wenn man gut hinhört, versteht man, was es bedeutet, eine himmlische und gleichzeitig irdische Stadt vor sich zu haben, und weshalb alle sie besitzen und für sie sterben wollen. Wer nach der Ewigkeit strebt, tötet sich um sich zu erlangen, das ist zwar dumm aber verständlich. Ich selbst fühlte mich dort als ein völlig  veränderter Mensch, auf mir lastete das Gewicht der Fragen, die ich mir selbst stellte, ich war der einzige im Verein, der mit seinen Händen die drei heiligen Stätten der Ewigen Stadt berührt hatte: die Kotel (die Klagemauer), die Grabeskirche und den Felsendom. Meine Gefährten, das heißt jüdische oder christliche Schriftsteller, hatten keinen Zugang zur Esplanade des Tempelbergs, der drittheiligsten Stätte im Islam, mit dem Felsendom, Qûbat as-Sakhrah, in funkelndem Azurblau, und der beeindruckenden Al-Aksa-Moschee, Haram al-Sharif; sie wurden unverzüglich vom Verwaltungsbeamten der Waqf-Behörde zurückgewiesen, der mit Unterstützung zweier israelischer Polizisten dafür sorgt, dass es zu keiner Berührung kommt, die Halal wäre. Mich ließ man aufgrund meines algerischen Passes durch, aus dem man schloss, dass ich Muslim sei. Ich dementierte nicht, nein, ich habe sogar eine Koransure hergesagt, an die ich mich aus der Kindheit erinnerte. Der Wachmann war völlig verdutzt, er traf zum ersten Mal im Leben auf einen Algerier und er dachte, mit Ausnahme des Emirs Abd-el-Kader, wären wir alle sephardisch, atheistisch oder sonstwie angehaucht. Ich fand es geradezu lustig, dass mir mein kleiner grüner Pass die Grenzen zu den heiligen Stätten schneller öffnete als die Grenzen des Schengen-Raumes, wo die Zollbeamten bereits beim Anblick eines grünen Passes ein Magengeschwür kriegen.

Ich sage euch ganz ehrlich: von dieser Reise bin ich glücklich und reich beschenkt zurückgekehrt. Ich war immer der Überzeugung, dass die Schwierigkeit nicht im Handeln selbst liegt, sondern darin, Bedingungen zu schaffen, die uns zum Handeln befähigen. Revolution entsteht aus der inneren Überzeugung, dass man sich bewegen, sich selbst ändern will, um die Welt zu verändern. Der erste Schritt zählt mehr als der letzte, mit dem wir das Ziel erreichen. Ich habe mir stets gesagt, dass der Frieden in erster Linie die Aufgabe der Menschen ist, er ist zu wichtig, um ihn den Regierungen oder etwa den Parteien zu überlassen. Dort spricht man von Territorien, von Sicherheit, von Geld, von Bedingungen, von Garantien, man unterzeichnet Resolutionen, veranstaltet Festakte, hisst Fahnen, entwickelt einen Plan B, aber Menschen tun all das nicht, sie tun was eben Menschen tun, sie treffen sich im Café, im Restaurant, sie sitzen im Kreis um ein Feuer, sie strömen in einem Stadion zusammen, sie besuchen ein Festival, sie verbringen ein paar schöne Momente am Strand, sie entwickeln Gefühle für einander und verabreden ein Wiederzusehen. „Auf Wiedersehen“, „Bis bald“, „Nächstes Jahr in Jerusalem“, so heißt es dann. Genau das haben wir in Jerusalem gemacht. Männer und Frauen aus verschiedenen Ländern, alles Schriftsteller, fanden sich zu einem Literatur-Festival zusammen, um über ihre Bücher zu reden, über ihre Gefühle angesichts des ganzen Elends in der Welt, über dies und jenes, und insbesondere über die Frage, wie man den Menschen in die Lage versetzen kann, endlich mit dem Frieden ernst zu machen, und schließlich haben wir einander versprochen, uns wiederzusehen oder uns wenigstens zu schreiben.

Ich kann mich nicht erinnern, dass wir während der fünf Tage und fünf Nächte in Jerusalem (einschließlich eines Kurztrips nach Tel Aviv, wo wir einen schönen Abend mit unseren Freunden vom Institut Françaises zu verbracht haben) auch nur ein einziges Mal über den Krieg gesprochen hätten. Haben wir ihn vergessen, haben wir einfach das Thema gemieden oder haben wir so getan, als wäre seine Zeit endgültig vorbei und als sei es an der Zeit, über den Frieden und die Zukunft zu reden? Wahrscheinlich kann man nicht gleichzeitig über Krieg und Frieden reden, sie schließen sich gegenseitig aus. Ich habe es allerdings sehr bedauert, dass es nicht einen einzigen Palästinenser unter uns gab. Denn schließlich muss der Frieden ja zwischen Israelis und Palästinensern geschlossen werden. Ich befinde mich mit keinem von beiden im Krieg, einfach deshalb, weil ich beide liebe, auf die gleiche Art, als seien wir Brüder seit Anbeginn der Welt. Ich wäre überglücklich, wenn man mich eines Tages nach Ramallah einladen würde, gemeinsam mit israelischen Autoren, Ramallah ist ein geeigneter Ort, um über den Frieden zu sprechen und über den berühmten ersten Schritt, den man tun muss, um ihn zu erreichen.

Ich möchte insbesondre David Grossmann erwähnen, diesen Giganten der israelischen und der Weltliteratur. Ist es nicht wunderbar, dass zwei Männer, Schriftsteller wie wir, die im Abstand eines Jahres die gleiche Ehrung - den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - erhalten haben, er 2010 und ich 2011, im Jahre 2012 zusammentreffen, um in der Stadt Jerusalem, Al-Quds, über den Frieden zu sprechen, dort wo sich Juden und Araber, die drei Buchreligionen das Herz der Menschheit teilen. Könnte unsere Begegnung der Beginn eines umfassenden Friedenstreffes der Schriftsteller sein? Könnte dieses Wunder 2013 geschehen?

Der Zufall ist manchmal listig genug, uns zu Dinge zu sagen, die nicht vom Zufall abhängen.

(Irgendwo unterwegs zwischen Jerusalem und Algier.)

Boualem Sansal
(eigene Übersetzung/ Original: L'impossible Paix en Méditerrannée, Boualem Sansal/Boris Cyrulnik))

Jean Pierre Lledo

Boualem Sansal ist abgereist. Es war ein Blitzbesuch. Aber für alle, die ihm in diesen vier Tagen (13. –16. Mai) in Jerusalem oder Tel Aviv beim Internationalen Schriftsteller-Festival 2012 begegnet sind, wird das Licht dieses Blitzes für immer bleiben. Aus unzähligen Gründen.

Obwohl er mit jedem seiner Romane berühmter wurde, ist Boualem sich treu geblieben: bescheiden, den Menschen zugewandt, sanft, niemals wird er laut, er wirkt offen und  aufrichtig, er trägt nie eine Maske, so dass man ihm manchmal doch eine verpassen möchte, man kann ja nie wissen…

Unwillkürlich muss man an den anderen ruhigen, kraftvollen Schriftsteller Tahar Djaout denken, der genau wie er das „r“ rollte. (Er wurde am 27. Mai 1993 von Islamisten ermordet, als er gerade aus dem Haus kam und in sein Auto steigen wollte. Es geschah in einem entlegenen Vorort von Algier.)

Aber Ungeheuerlichkeiten erschüttern Boualem ebenso wenig, wie sie Tahar erschütterten.

Natürlich hat Boualem hier Derartiges nicht erlebt.

Man muss im Netz nach dem Monströsen suchen: Hass, vulgäre Judenfeindschaft im Wettstreit mit einem ebenso vulgären Hass auf Israel, übelste Beschimpfungen aus dem Sumpf des Nazislamismus, den Boualem Sansal bereits in seinem Buch „Das Dorf des Deutschen“ entlarvt hat.

Selbst für einen völlig vorurteilsfreien Mann wie ihn ist es keine Kleinigkeit, von Algier nach Jerusalem zu reisen. Worin besteht denn das Problem, habe ich ihn gefragt. Antwort: „In der Angst“. Aber Boualem verweigert sich der Angst, denn sie würde bedeuten, dass man sich auf die Zensoren, die Diktatoren, die Mitläufer, und alle diese Wohlmeinenden einlässt, die man am besten als „Pflegepersonal“ bezeichnet.

Mangels Angst, konnte er genießen was er angesichts der magischen Stadt Jerusalem empfand, Yerushalaïm auf Hebräisch, oder bei seinen Treffen mit den Einheimischen, den Lesern, den Zuhörern, und er war glücklich. Wie schön es ist, in so ein verzücktes Gesicht zu blicken. Auch wenn er längst älter als sechzig ist, hat es den Ausdruck eines Kindes bewahrt. Und dabei war nichts Mystisches im Spiel, auch nicht das berühmte Jerusalemsyndrom.

Genauso werden es alle Araber erleben, die nach Israel kommen. Von einer verbotenen Frucht zu essen, ist immer noch das größte aller Vergnügen.

Und dann begegnet man den Juden, die aus arabischen Ländern vertrieben wurden, 600 000 von insgesamt 900 000, das waren nicht gerade wenig. Zwangsläufig besteht an jeder Straßenecke die Möglichkeit, einem Kameraden aus Tlemcen oder Constantine oder Mzah oder einem Dorf der Königin Kahena im Aurès zu begegnen.

Weder Juden noch Araber finden das spaßig.

Ja, wenn man aus der arabischen Welt kommt, wenn man sich sein Visum in Paris holen und durch mehrere europäische Länder fahren muss, in denen man Mord und schlimmsten Verfolgung von Schwarzen, Christen, und muslimischen Abweichlern in den islamischen Ländern völlig gleichgültig gegenübersteht, Israel jedoch als zum einzigen Objekt der Empörung erklärt, dann ist man natürlich völlig überrascht wenn man sieht, dass dort in den  Straßen Juden und Araber ganz selbstverständlich aneinander vorbeigehen oder mit der berühmten kürzlich eröffneten Straßenbahn durch ganz Jerusalem mit den jüdischen oder arabischen Vierteln fahren, ohne dass man einen einzigen Polizisten sieht oder ein talmudisches Verbrechen geschieht, wie etwa das Backen von Fladenbrot aus dem Blut arabischer Kinder, was ein beliebtes literarisches Thema in arabischen Ländern ist…

Boualem hat mich übrigens gefragt, welche Uniform die Polizei trage. Ich habe ihm geantwortet, dass ich mir die gleiche Frage auch schon gestellt hatte, denn ich hatte noch keinen bemerkt, und ich fragte mich auch, wie man in einer so großen Stadt für Ordnung sorgt.

Beim Besuch der Französischen Gymnasiums in Jerusalem, das das trotz seiner Unterbringung im Sankt-Josefs-Kloster streng laizistisch ist, war er völlig perplex, dass abgesehen von einigen französischen Lehrern und dem Schulleiter die übrigen Lehrer und Schüler sowohl Juden als auch Araber waren, wobei letztere entweder die israelische Staatsbürger besaßen oder aus den palästinensisch verwalteten Gebieten stammten.

Er hat allerdings auch hier und da ein Palästinensertuch gesehen, denn es war gerade Naqba-Tag (Tag der Katastrophe), den die palästinensische Führung seit einigen Jahren veranstaltet, wobei Naqba (Verzeihung) auf Hebräisch etwa so viel wie „Shoah“ bedeutet; es handelt sich um den Tag der Unabhängigkeitserklärung Israels im Mai 1948.

Wenn sich die Araber und die Palästinenser einmal frei – also ohne dass Intellektuelle Angst um sich und ihre Familien haben müssen – ihre Geschichte bewusst machen, müssen sie der Naqba durchaus einen Tag widmen, aber sie müssen ihn früher datieren.

Zum Beispiel auf den Beginn des 20. Jahrhunderts, als die ersten Araber politisch aktiv wurden. Damals sprach man noch nicht von Palästinensern, denn die ersten Einwohner Palästinas waren Juden. Statt die nötigen Strukturen für einen künftigen Staat zu schaffen, wie die Zionisten es taten, verschwendeten sie ihre ganze Energie damit, den Juden das nationale Recht auf einen eigenen Staat abzusprechen. Zunächst redeten sie nur, dann boykottierten sie jüdische Erzeugnisse, dann ermordeten sie einfache Menschen, dann fingen sie an, Juden aus Galiläa, aus Hebron, aus Jerusalem zu vertreiben, also jene, die diesen Landstrich niemals verlassen hatten, und dann kam der Krieg unter Hadschi Amin El Husseini, der seit Beginn der dreißiger Jahre von den  Nationalsozialisten finanziell unterstützt wurde.

Ihre Anführer missbrauchten sie ebenso wie die arabischen Staaten, deren Grenzen sämtlich von der herrschenden Macht Großbritannien gezogen worden waren. Das ist nämlich die Naqba der christlichen und muslimischen Araber Palästinas.

Wenn der Tag kommt, an dem arabische und palästinensische Intellektuelle all das sagen und schreiben werden, dann wird die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts in greifbare Nähe rücken.

Sansal ist überzeugt, dass es eines Tages Frieden geben wird. Und er hat sogar eine Idee dazu, sie ist ganz einfach, er hat sie uns nicht vorenthalten:

„Es müssten nur Israelis und Palästinenser an einem Verhandlungstisch sitzen“. Und sonst niemand.

„Keine Europäer, keine Amerikaner, keine Russen, denn all denen  geht es nur um ihre eigenen Interessen.“

Übrigens auch keine Araber, denn gerade die haben sich den Islamisten an den Hals geworfen.

Islamisten sind für Sansal das absolut Böse. Er hat es in seinem Roman „Das Dorf des Deutschen“ aufgezeigt.

Deshalb hat er Europa aufgerufen, sich gegen jene zur Wehr zu setzen, die sie als „notwendiges Übel“ verharmlosen.

Durch das Böse zum Guten gelangen? „Lachhaft. Suizidal“, sagt Boualem und wird ein klein wenig lauter: „Um zum Guten zu gelangen, muss man das Böse MEIDEN“.

Wenn aber die ersten freien Wahlen in den arabischen Ländern überall die Islamisten an die Macht gebracht haben, besteht dann überhaupt noch Hoffnung? Das wurde er während seiner Lesungen vor vollem Haus unzählige Male gefragt.

„Mittelfristig nicht“, gibt der Schriftsteller zu. Und, fügt er hinzu, von allein wird es nicht besser. In jeder Diskussion wiederholt Boualem schonungslos: „Die Intellektuellen in den arabischen Ländern müssen aktiv werden“. Sie müssen ihre Gedanken unabhängig von den etablierten Kräften entwickeln, und vor keinem Tabu zurückschrecken. Und da er nicht resignieren will, nennt Boualem die wenigen Beispiele positiver Reaktionen zu seiner Israelreise, die wie ein Leuchtzeichen aus diesem Sumpf voller Hass auftauchen.

Immer wieder wird er gefragt: „Warum bleiben Sie in Algerien?“ Und dann zitiert er einige Fälle aus der langen Liste der Regimegegner, die seit 1962 in den verschiedensten Städten Europas ermordet wurden, ohne dass die Polizei dieser Länder je eine Untersuchung durchgeführt hätte, wiewohl sie über rechtsstaatliche Mittel und eine unabhängige Justiz verfügte.

„Nicht ich muss gehen, sondern sie (die Machthaber)“.

Das israelische Publikum ist an solche Spinner wahrlich nicht gewöhnt!
Überraschung. Erstaunen. Überrumpelung. Verblüffung, Verwunderung.
Freudige Nachricht. Unerwartetes Geschenk.

So. Jetzt habe ich euch alle Synonyme für Überraschung aufgelistet. die mir der Computer anbietet. Und der Zauber, das helle Licht, von denen ich eingangs sprach, sind noch nicht verflogen.

Er hörte viele Worte, die von Herzen kamen. Vertraulich: „Viele bewundern Sie, ich liebe Sie“, sagte Ziva. Und öffentlich: „Wenn Primo Levi noch leben würde, wäre er Ihr Freund, Boualem!“ Ein wunderbares Kompliment von Seiten eines Menschen, der sechzig Verwandte in Hitlers Lagern verloren hat.

Wo Boualem auftaucht, hinterlässt er bleibenden Eindruck. Als der Augenblick des Abschieds kommt, lautet das einzige Wort, das sein Publikum nicht spricht „Adieu“. Allen ist klar, dass hier eine lange Geschichte entsteht, oder längst entstanden ist, vor 2000 Jahren oder noch länger, als die ersten Juden aus Judäa vertrieben wurden und bei den Berbern Aufnahme fanden.

Es gibt nämlich ein Gefühl, das einem den Hals zuschnürt und das keinen, der Jerusalem zum ersten Mal besucht, wieder loslässt: an diesem Ort wird sich die mit Gewalt zerschlagene Geschichte der Menschheit wieder zusammenfügen und beruhigen.

Künstler und Intellektuelle der arabischen Welt, die noch etwas Mut bewahrt haben, sollen wissen, was sie erwartet und was sie empfinden werden, wie schön es doch ist, von denen geliebt zu werden, die man einem als Feinde präsentiert hat.

Die letzten Stunden seines Aufenthalt in Jerusalem wollte Boualem mit seinen Landsleuten aus Tlemcen, Miliana, Blid, Algier und anderen Städten, deren Namen ich vergessen habe, in einem wunderschönen Haus im jüdischen Viertel der Altstadt verbringen. Man hatte es 1948 abgerissen, als es den Jordaniern in die Hände fiel, und nach dem Sechstagekrieg von 1967 wieder aufgebaut.

Vor dem Abschied begaben wir uns auf die Terrasse. Es war tiefe Nacht und der der Felsendom leuchtete in seinem goldenen Glanz. Dort konnte man von der Versöhnung unter den Nachkommen Abrahams träumen, die unser Gastgeber, auch er hieß Abraham, in einem wunderbar lyrischen Höhenflug vorsichtig beschwor, und Boualem stimmte ein…

Und ich musste leider an eine SMS denken, die ich zwei Jahre zuvor in Paris von einer algerischen Intellektuellen erhalten hatte. Gerade wurde die Synagoge Hourva eingeweiht, die die Jordanier 1948 wie viele andere in die Luft gesprengt hatten: „Tsahal zerstört gerade mit Bulldozern die Al-Aksa-Moschee“.


(Eigene Übersetzung/Original: Jean Pierre Lledo)